WM 2014 als Hörspiel in Mönchengladbach Wie Deutschland 3:0 gegen Algerien gewann

Mönchengladbach · Ganz Gladbach sitzt vor dem Fernseher. Nur unser Autor nicht. Der versucht das Spiel draußen nur anhand der Geräusche zu verfolgen.

 Eine Tüte Chips mitten auf der Kreuzung Marktfeldstraße/ Lindenstraße. Während eines WM-Spiels mit deutscher Beteiligung ist das gefahrlos.

Eine Tüte Chips mitten auf der Kreuzung Marktfeldstraße/ Lindenstraße. Während eines WM-Spiels mit deutscher Beteiligung ist das gefahrlos.

Foto: Raupold, Isabella

Schlimm ist an diesem Abend alles. Das Warten auf den Torschrei. Das Warten auf den Autokorso. Das Gefluche aus den Mietwohnungen. Die Stille. Aber am schlimmsten ist für mich der Moment um 23.50 Uhr. Ein banaler Vorgang. An jedem anderen Abend. Aber nicht an diesem Dienstag. Nicht, wenn Deutschland gegen Algerien um den Einzug ins Viertelfinale einer Fußball-WM spielt. Ein Mann und eine Frau setzen sich in ein Auto. Sie sprechen nicht, sie jubeln nicht. Sie fahren einfach weg. Das Spiel müsste gerade vorbei sein. Hätte Deutschland gewonnen, wären sie nicht so ruhig. Wäre Verlängerung, würden sie doch niemals wegfahren. An die einzige Möglichkeit, die noch bleibt, wage ich nicht zu denken.

Seitdem ich geistig in der Lage bin, Fernsehen zu gucken, habe ich kein WM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft verpasst. 24 Jahre lang. Für das Achtelfinale gegen Algerien habe ich beschlossen, meinen Fernseher gegen ein Mönchengladbacher Wohngebiet einzutauschen. Mein Wohngebiet. Marktfeldstraße und Umgebung. Einfach mal durch Windberg spazieren. Die Geräusche, die während der Partie aus den Wohnungen und Häusern dringen, müssten doch ausreichen, um über den Spielstand und vielleicht sogar über den Spielverlauf Bescheid zu wissen. Kein Fernsehen, kein Internet, kein Radio, kein Handy. Ab 22 Uhr bin ich darauf angewiesen, was die Leute so aus ihren Wohnzimmern brüllen.

 Herumlaufen oder an einer Stelle sitzen bleiben? Auch für das Zuhören braucht es die richtige Taktik.

Herumlaufen oder an einer Stelle sitzen bleiben? Auch für das Zuhören braucht es die richtige Taktik.

Foto: Raupold, Isabella

Als ich zum Anpfiff auf die Straße trete, eilen die Letzten noch im Deutschlandtrikot nach Hause. Mit Chips und Limo spaziere ich los. Links auf den Schömkensweg, rechts auf den Metzenweg, dann setze ich mich auf eine Bank im Park an der Lochnerallee. Dort sollte es doch so ruhig sein, dass ich von wo auch immer einen Torschrei höre. Tolle Idee. Wie laut können Vögel eigentlich sein? Also weiter. Als ich an der Viersener Straße angelangt bin, höre ich von irgendwoher so eine Art Jubel. Danach ruft eventuell jemand "Hand". Es ist 22.22 Uhr. Ich kann diese Informationen nicht verarbeiten, laufe weiter, höre aber bloß Pfiffe aus den Fernsehern und sehr undeutlich Béla Réthy. Die einzigen Menschen, denen ich begegne, sind Hundebesitzer. Mein Puls ist normal. Das ändert sich, als ich um 22.41 Uhr an der Kreuzung Lindenstraße/Marktfeldstraße stehe. Ein hell beleuchtetes Fenster in der ersten Etage. Geschrei. Jemand ruft "Hat doch Ball gespielt". Elfmeter? Danach wieder Stille. Also nichts passiert. Ich setze mich auf die Kreuzung und öffne die Tüte mit den Chips. Wer noch unterwegs ist, fährt Bus oder Krankenwagen.

Ein paar Männer rauchen, es muss Halbzeit sein

Wieder weiter. Bis ich die Fernsehgeräusche aus der Parkklause höre. Ein paar Männer treten heraus, rauchen. Es muss Halbzeit sein. Niemand sieht übermäßig fröhlich ein. Einer sagt irgendwas mit "Löw" ins Handy. Ist die Trainerdiskussion schon im Gange? Ich tippe auf ein 0:0. Kurzfristig nimmt der Verkehr wieder zu. Ein Roller durchbricht die Stille.

WM-Party mit Autokorso in Mönchengladbach
15 Bilder

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Ob Löw seine Taktik für die zweite Halbzeit umstellt, weiß ich nicht, aber ich tue es. Anstatt die ganze Zeit zu laufen, lasse ich mich vor einem Mietshaus am Steinberg nieder. Vom Bürgersteig aus kann ich in den Innenhof sehen. Ich sehe beleuchtete Wohnungen, dort wird garantiert Fußball geschaut. Kaum sitze ich, schreit jemand "Ohhhh" und und "Schieß, schieß". Endlich bin ich richtig. Das sind die Geräusche, die ich auch mache, wenn mein Verein aufs gegnerische Tor zusteuert - und dann vergibt.

Den Gedanken, dass ausgerechnet in diesem Haus Algerier wohnen, kann ich noch verdrängen, nicht aber den, dass Deutschland zurückliegt oder zumindest nicht vorne. Sonst würden die Leute kaum so ein Geschrei veranstalten. Leider habe ich sehr viel Fantasie, und leider ist Kopfkino grausamer als jede Realität. Vielleicht hat Algerien getroffen, als die Vögel so laut zwitscherten. Plötzlich bin ich sehr sehr nervös. Limo und Chips werde ich nicht mehr anrühren. Stattdessen gehe ich vor dem Haus auf und ab. Das ist Vor- und Nachteil, wenn man nicht vorm Fernseher sitzt. Jede Minute ist gleich aufregend. Ganz egal, wie souverän die deutsche Abwehr steht.

Weitere Informationen beziehe ich von einer Frau ein paar Häuser weiter. Das Wohnzimmer mit Balkon liegt zur Straße hin. Sie ruft "Lauf, lauf, weiter", "Mann, jetzt lauf" und "Lauf doch mal nach vorne jetzt" und zwar so, als ginge es um alles, also darum, die drohende Niederlage zu verhindern. Und weil es beim Fußball nicht nur ums Laufen geht, sagt die Stimme auch: "Das Ding geht einfach nicht rein." Die Deutschen drücken, die Algerier verteidigen. Es kann nicht anders sein. Bloß: Verteidigen die Algerier das 0:0 oder die Führung? Ein Wohngebiet hält den Atem an. Nur zweimal fährt ein Auto vorbei.

Jemand ruft das böseste F-Wort

Um 23.41 Uhr bin ich nur noch Nerven. Ist Deutschland in zehn Minuten draußen? Ich erinnere mich an den Flugkopfball des Bulgaren Letschkow 1994, die tiefrote Sense von Wörns 1998 gegen Kroatien, die Panne von Kahn 2002 gegen Brasilien. Von 2006 will ich gar nicht sprechen. Aber wäre es nicht das allerschlimmste, in einem Wohngebiet aus dem Turnier zu fliegen, ohne eine Ahnung zu haben? Jemand ruft das böseste F-Wort. Tor für Algerien? Nun sag doch mal einer was. Die Fenster der Häuser sehen mich schweigend an. Soll ich mich doch direkt davor stellen und Réthy zuhören? Aber bin ich bereit für die Wahrheit? Vielleicht bin ich der einzige Deutsche, der noch Hoffnung aufs Weiterkommen hat.

Lichter in anderen Räumen gehen an. Abpfiff. Unentschieden, denke ich. Verlängerung. Dann sehe ich die beiden Leute ins Auto steigen, kurz danach läuft jemand im Deutschland-Trikot an mir vorbei. Nicht feiernd. Oh Gott. Der nächste Moment ist viel besser. Noch bevor ich weiß, ob Deutschland es in die Verlängerung geschafft hat, höre ich Geschrei, höre ich Jubel. Zeitversetzt. Wegen der unterschiedlichen Anschlüsse. Die Frau mit dem Balkon zur Straße sagt "Meine Fresse". Ich bin mir sicher: Das ist das 1:0 für Deutschland. Kurz danach wieder Jubel. 2:0? Oder galt der erste Jubel einem Elfmeterpfiff und der zweite dem Tor? Hauptsache Führung. Ich wage es trotzdem nicht, laut zu jubeln. Nun höre ich sehr genau hin. Wann gilt Fluchen einer verpassten Chance? Wann könnte es einem Tor der Algerier gelten? Klar ist nur: Wenn es jetzt ruhig bleibt, dann ist das gut.

2:0? 3:0? 4:0? "Schalala"

Um 0.15 Uhr tritt die Frau auf den Balkon und sagt "Ich hab gedacht, das Spiel sei vorbei." Die ganze Zeit war ich also auf die Kommentare einer Frau angewiesen, die nicht mal wusste, dass es auch in der Verlängerung zwei Halbzeiten gibt. "Bist du doof... einfach nur reinmachen... schieß, schieß, schieß." Immerhin, Deutschland hält die Algerier vom Tor weg. Die müssen nun alles nach vorne werfen. Das bietet Platz für Konter. 0.29 Uhr. Jemand ruft "Tor", dann Jubel, dann noch mal Jubel. 2:0? 3:0? 4:0? "Schalala... Borussia." Fenster werden geöffnet. Jemand steht auf irgendeinem Balkon und sagt was von 3:0. Dann ist ja alles klar. Letztlich doch souverän. Um 0.36 Uhr höre ich die erste Autohupe und entspanne.

Als ich in meine Wohnung zurückgekehrt bin, sehe ich im Internet nach. Oh.

(RP)
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