Mönchengladbach Zu Besuch in Chicos Gypsy-Wunderland

Mönchengladbach · "Chico and the Gypsies" spielen bei der Sommermusik in Rheydt. In Arles hat sich Chico, der Kopf der Gruppe, ein Gypsy-Paradies erschaffen.

 "Chico and the Gypsies" beim Konzert.

"Chico and the Gypsies" beim Konzert.

Foto: Chico and the Gypsies

An seine letzte Reise nach Mönchengladbach - ein Ort, der für Franzosen aussprachetechnisch ein Albtraum ist - erinnert sich Chico noch ganz genau. "Wir hatten vorher in Mainz mit dem ZDF eine Sendung gedreht, es war Mitte Dezember, und es fing plötzlich an zu schneien. Auf der Autobahn war Chaos, und wir sind in letzter Minute und total gestresst angekommen", sagt der Begründer der "Gypsy Kings" und "Chico and the Gypsies" und lacht sein tiefes Lachen.

Schnee und Stress: Zwei Dinge, die unvorstellbar sind an diesem heißen Sommerabend auf Chicos "Patio" in der Camargue. Hier, zehn Kilometer entfernt vom Stadtzentrum, am Ufer der Rhône, wo die Grillen noch lauter zirpen als in der Stadt, hat sich der "Boss", wie ihn die anderen Bandmitglieder nennen, sein ganz eigenes "Gypsy-Paradies" erschaffen.

 Zuschauer springen auf und tanzen auf den Tischen.

Zuschauer springen auf und tanzen auf den Tischen.

Foto: Chico and the Gypsies

Dort, wo einst eine alte Fabrikruine stand, ist etwas entstanden, dessen Sinn der Besucher erst verstehen kann, wenn er Chico, der eigentlich Jahloul Bouchikhi heißt, und sein Leben kennt. Aufgewachsen als Kind marokkanisch-algerischer Einwanderer in einer Sozialsiedlung in Arles, zu einer Zeit, in der der Begriff "Zigeuner" noch kein Tabu war, sondern einfach die fahrenden Völker beschrieb, die von Stadt zu Stadt zogen und gegen Geld Kunststücke aufführten, freundet sich der kleine Chico mit den Kindern der Zigeunerfamilie an, die mit ihren Wohnwagen im Quartier Halt machten.

Fasziniert von ihrem Leben in Freiheit und ihrer Lebensfreude verbringt er immer mehr Zeit mit ihnen, lernt von ihnen das Gitarrenspiel und die Liebe zur Musik. Er heiratet eine Tochter der Familie und wird mit ihren Brüdern unter dem Familiennamen "Los Reyes" berühmt, verbringt die Sommer bei den Reichen und Schönen der französischen Mittelmeerküste und spielt für sie.

 Laura Schameitat im Interview mit Chico.

Laura Schameitat im Interview mit Chico.

Foto: Laura Schameitat

Mit dem "Patio de Camargue" will Chico etwas von dem zurückgeben, was sein Leben so entscheidend geprägt hat. "Ich wollte einen Ort schaffen, an dem ich mein eigenes kleines Gypsy-Leben führen und mit anderen teilen kann", sagt Chico. Weniger pathetisch könnte man es Reservat nennen. Was es auch ist, es ist vor allem eins: bunt. Neben einer Sammlung farbenfroher Wohnwagen aus der alten Zigeunerzeit, gibt es eine Fotoausstellung mit Bildern aus dem Leben der Zigeuner in den 50er Jahren, ein Museum mit Fotos aus Chicos Karriere, darunter zahlreiche mit Brigitte Bardot, aber auch mit dem Dalai Lama, einen Probensaal, eine Open-Air-Bühne, eine Manege für Pferde und eine "Gypsy-Beach-Bar" mit Terrasse am Flussufer.

Hier sitzt Chico nun - pinkes Hemd, pinke Leinenhose, pinke Lederslipper - und arbeitet vor dem Auftritt noch seine Mails ab. Gypsy hin oder her: Auch für Chico geht in der Gegenwart ohne Smartphone gar nichts mehr. Schon gar nicht, wenn man nicht nur Musiker, sondern auch noch Unesco-Ehrenbotschafter ist. 1973 töteten Mossad-Agenten Chicos Bruder Ahmed, den sie mit einem palästinensischen Terroristen verwechselten. Chico hat dem Staat Israel öffentlich verziehen und wurde so zum Symbol für Toleranz.

Für den Abend hat der 59-Jährige eingeladen, einmal im Monat spielt er hier für die Leute aus Arles und Umgebung, für Freunde und Familie. Es gibt Paella für alle aus einer riesigen Pfanne, Wein, Kaviar, Baguette. Vor der Bühne sind etwa 25 runde Tische aufgebaut, eingedeckt und mit Kerzen dekoriert. "Ein riesiges Familienfest", sagt Chico. Die Leute sind so unterschiedlich, wie es kaum geht. Da ist die High Society der Provence: Privatärzte, berühmte Chansonniers, Juweliere, Herzchirurgen samt Gattinnen mit aufgespritzten Lippen, botoxgezeichneten Wangen und Schoßhündchen in der Handtasche. Dann die Mittelschicht, die zu Fuß aus ihren Wohnhäusern in Arles kommt. Und schließlich die vielen Helfer und Musiker, größtenteils Immigrantenkinder, teils ohne Schulbildung, aber mit vielen Talenten.

Schon rund zehn Minuten nach Konzertbeginn sitzt aus den vorderen Reihen niemand mehr. Vor der Bühne wird getanzt, bei schnelleren Stücken allein, bei den romantischen Stücken paarweise eng umschlungen. Im Gegensatz zu dem Album "Bamboleo - The greatest Gypsy Hits of all time", das gerade erschienen ist und mit hispanisierten Versionen von deutschen Schlager-Hits wie "Hey Baby" (DJ Ötzi), "Verdammt ich lieb' dich" (Matthias Reim) oder auch Frank Sinatras "My way" eher auf ein Party-Publikum abzielt, besinnen sich die Gypsies an diesem Abend auf Klassiker wie "Volare", "Baila me" oder "Djobi, djoba". Das plant Chico auch für den Abend an Schloss Rheydt.

Zum Glück. Denn diese Songs zeigen die wahre Musikalität der Truppe wesentlich besser als die neuen Schlager. Besonders deutlich wird das bei einer Version von Astor Piazollas Instrumentalstück "Libertango", bei dem die Gitarristen und ein Gastgeiger für offene Münder im Publikum sorgen. Zum Schluss spielt die Band den alten Gypsy-Kings-Hit "Bamboleo", einige Zuschauerinnen tanzen auf den Tischen.

Chico steht während der gesamten Show nie im Mittelpunkt der Bühne, er lässt den jungen Nachwuchsmusiker den Vortritt. Wo findet man eigentlich so begnadete Talente? "Sie kommen einfach", sagt Chico und zuckt mit den Schultern. Das ist wohl das, was er im Kopf hatte, als er den Patio baute.

Einpacken wolle er "das alles hier" und breitet die Arme aus. Einpacken und mit nach Mönchengladbach bringen.

(RP)
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