Moers Die Welt kann groß und klein sein

Moers · Die Duisburger Filmwoche wird bislang von einigen großen Produktionen geprägt, die dem Zuschauer Menschen nahebringen, die ganz anders leben als unsereins. Nikolaus Geyrhalter filmte zehn Jahre in einer Kleinstadt.

 Festivalleiter Werner Ruzicka.

Festivalleiter Werner Ruzicka.

Foto: Filmwoche

Zugegeben, besonders vielversprechend klingt die kurze schriftliche Zusammenfassung des jüngsten Films von Nikolaus Geyrhalter "Über die Jahre" nicht: Im Jahr 2004 schließt in einer niederösterreichischen Kleinstadt eine Textilfabrik, deren Maschinen aus dem Zeitalter der Manufakturen zu stammen scheinen. Der Regisseur reist in das Kaff, zeigt die letzten Angestellten der Fabrik bei ihren letzten Arbeiten und begleitet diese überschaubare Menschengruppe zehn Jahre lang, bis ins Jahr 2014. Nach 188 Minuten ist der Film zu Ende.

 Festivalleiter Werner Ruzicka hat sein Versprechen gehalten.

Festivalleiter Werner Ruzicka hat sein Versprechen gehalten.

Foto: ""

Ungeachtet dieser Notiz ist "Über die Jahre" einer der Höhepunkte der Duisburger Filmwoche. Für seine preisgekrönte Dokumentation "Elsewhere" reiste Geyrhalter durch die ganze Welt und zeigte atemberaubende und bisweilen bestürzende Bilder aus uns unbekannten (Arbeits-)Welten. Bei "Über die Jahre" bleibt Geyrhalter buchstäblich im Dorf, dehnt indes die geschilderte Zeit über das ansonsten gängige Maß weit hinaus. Als Zuschauer ist man bei den jährlichen Besuchen des Filmemachers dabei. Und in der Tat gelingt es Geyrhalter, seine eigene Neugier auf das Kinopublikum zu übertragen. Diese Neugier fasst er in einfache Frage wie: Wie ging es euch in den vergangenen Monaten? Waren die Jahre nach der Fabrikschließung eher gut oder schlecht? Geyrhalters Leute erzählen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Ohne die englischen Untertitel blieben einige mundartlich gesprochenen Aussagen unverständlich. Eine Frau spricht schneller als der Schall, ein anderer scheint die Zähne nicht auseinanderzukriegen. Und gerade dieser mundfaule Eigenbrötler, der akribisch seine gesammelten zigtausend Schlager alphabetisch mit Hilfe eines ausrangierten Computers sortiert, überrascht am Ende des Films mit gar nicht mal so schlecht gereimten Alltagsgedichten. Bezeichnend für die dauerhafte Qualität des Films ist, dass das Publikum nach dem Vortrag eines solchen Gedichts spontan Applaus spendete.

Der nervöse Junge sagt im Gespräch mit der Ärztin, dass er gar nicht unbedingt immer gewinnen möchte; er wünsche sich nur "wie die anderen" zu sein. Und "Wie die anderen" ist der Titel der bemerkenswerten Dokumentation des renommierten Regisseurs Constantin Wulff, der die Welt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie so hautnah zeigt, wie man es bislang wohl noch nie gesehen hat. Da gibt es keine Verklärung und keine Verteufelung der psychiatrischen Interventionen. Wulff war mit Kamera und Mikrofon dabei, wenn die Ärzte einzelne Fälle besprechen und beispielsweise entscheiden müssen, ob Behörden einzuschalten sind, da der Verdacht auf sexuellen Missbrauch wächst, ohne dass der betroffene junge Mensch dazu etwas sagt. Und man spürt förmlich die fast verzweifelten Versuche eines Therapeuten, der eine jugendliche Patientin dazu bringen möchte, sich nicht ständig selber zu schneiden und sich auf lebensbedrohliche Weise Blut abzuzapfen. Die Welt in der Psychiatrie, die Wulff zeigt, ist eng und eine besondere, aber kein Bestiarium. Vielmehr ein Krankenhaus mit schwierigen Patienten und Ärzten, die sich - wie auch Ärzte in somatischen Kliniken - bisweilen restlos überfordert fühlen.

"Somos Cuba" ist ein Film, bei der die Zuschreibung von Film und Filmmacher gar nicht so einfach ist. Die Regisseurin Annett Ilijew hat insgesamt 116 Filmkassetten ausgewertet, die sie vom kubanischen Amateurfilmer Andres im Laufe von sieben Jahren per Post erhielt. Aus diesen Kassetten formte sie zusammen mit ihrer Schnittmeisterin Friederike Schuchardt eine Dokumentation, die das Leben in Kuba aus einer sehr persönlichen Perspektive, aber dennoch allgemein erhellend zeigt. In der Diskussion nach dem viel gelobten Film fragte Festivalleiter Werner Ruzicka danach, wer eigentlich "Macher" des Films ist. Die Antwort: Alle seien gleichberechtigt: Der im vergangenen Jahr an einem Herzinfarkt gestorbene Andres aus Kuba, Annett Ilijew (Regie) und Friederike Schuchardt (Schnitt).

Ruzicka hatte bei der Eröffnung der Filmwoche versprochen, dass "eine Woche Welt" zu erleben sei. Das Versprechen hält er.

(pk)
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