Serie Aus Römischen Trümmern Erbaut - Streifzüge Durch Die Moerser Geschichte Diesterweg - der Lehrer und Reformer

Moers · Der Pädagoge wirkte bis 1832 in Moers. Die RP stellt eine weitere Folge aus dem Buch "Aus römischen Trümmern erbaut" vor.

Serie Aus Römischen Trümmern Erbaut - Streifzüge Durch Die Moerser Geschichte: Diesterweg - der Lehrer und Reformer
Foto: Dieker Klaus

Moers Am 4. Juni 1820 bricht ein junger Pädagoge von Elberfeld nach Moers auf. Er steckt voller Ideen, Konzepte und Tatendrang. Der Reformgeist, der durch die preußische Bildungspolitik weht, hat auch ihn erfasst - so sehr, dass er sich selbst von Widrigkeiten nicht ins Bockshorn jagen lässt: Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg.

Dass Schulen einmal seinen Namen tragen würden, hätte sich der 30-Jährige freilich nicht träumen lassen, als er in diesen Tagen das Amt des ersten Direktors am neu gegründeten evangelischen Lehrerseminar in Moers antrat. Er war beseelt davon, den Unterricht in den Elementarschulen zu verbessern und den Lehrern dort eine fundierte Ausbildung zu vermitteln. Denken, Prüfen und Urteilen - das war seine Maxime, die er an die Seminaristen weitergeben wollte.

Diesterweg wuchs in Siegen auf, besuchte selbst Elementar- und Lateinschule. Die Schüler lernten in dieser Zeit in viel zu großen Klassen fast ausschließlich Bibeltexte und Kirchenlieder auswendig. Den Lehrern und Schulmeistern fehlte vielfach die akademische Bildung. Der Lehrerberuf hatte Anfang des 19. Jahrhunderts keinen Stellenwert, und die Besoldung war so schlecht, dass die meisten nicht davon leben konnten. In den Klassen regierte der Stock.

Diesterweg, Sohn einer angesehenen bürgerlichen Familie, studierte nach der Schule in Herborn, Heidelberg und Tübingen Mathematik, Physik und Astronomie. Er arbeitete als Lehrer an Schulen in Worms, Frankfurt/Main und Elberfeld. Als er erfuhr, dass in Moers ein Seminar für Elementarschullehrer aufgebaut werden sollte, setzte er sofort eine Bewerbung auf. Und wurde genommen - aber zunächst ohne offizielle Bestätigung durch das preußische Ministerium. Die ließ drei Jahre auf sich warten. "Unerwartete Hindernisse verzögerten von Monat zu Monat die definitive Feststellung der Verhältnisse der Anstalt, die Ernennung eines 2ten oder 3ten Lehrers und die Bestäthigung der provisorischen Ernennung meiner Person als Director der Anstalt von Seiten eines Hohen Ministerii", schrieb er 1826 in einer Chronik über die Anfangsjahre des Seminars. Der 30-Jährige wohnte mit seiner Familie zur Miete im Schloss, das der Besitzer Friedrich Wintgens in Teilen umgebaut hatte, und stürzte sich mit Elan in die Arbeit. Am 3. Juli 1820 wurde das Seminar eröffnet. Zwölf angehende Lehrer nahmen am ersten Kursus teil, der schon nach kurzer Zeit unterbrochen wurde, auch weil dem Projekt die finanzielle Grundlage fehlte. Der Unterricht fand unter anderem im Schloss statt, und Diesterweg lehrte fast alle Fächer: Pädagogik, Mathematik, Geometrie, Deutsch und Religion. Mit welcher Begeisterung Diesterweg unterrichtete, veranschaulicht ein Tagebucheintrag über eine Astronomie-Nacht: Im Fach "Mathematische Geographie" streifte er das Thema Himmelskunde und erlaubte den Seminaristen, "am ersten schönen hellen Abend bei mir einzukehren und die Nacht mit mir durchwachend dazu anzuwenden, die Sternbilder aufzusuchen, die scheinbare Bewegung zu beobachten, und all den großen Eindrücken sich hinzugeben, denen man in der Stille der Nacht, entfernt vom Geräusch des Lebens, im Dunkel der Erde unter dem glänzenden Himmelheer nicht entgehen kann."

Nicht alle wussten zu schätzen, was Diesterweg ihnen bot: Der Schüler W. Dörken wurde entlassen, als herauskam, dass er sich in Freistunden in die Schänke geschlichen und mit der Wirtstochter angebandelt hatte. Die ersten Jahre waren aufgrund der unsicheren Stellung Diesterwegs nicht leicht: Der Reformwille in der preußischen Bildungspolitik schien zu schwinden. Konservative Strömungen wurden stärker. Sie standen Diesterweg, dem Querdenker, kritisch gegenüber, der ihnen wohl in pädagogischen und religiösen Fragen zu fortschrittlich war. 1823 kam die Berufung zum Direktor des Seminars aber schließlich doch. Der Pädagoge machte sich auf die Suche nach einem Schulgebäude und fand es an der Haagstraße in Moers: das 1795 von Matthias Scheidtmann errichtete Gebäude; heute gehört es der Kirchengemeinde St. Josef.

Die Ansprüche Diesterwegs an das Gebäude waren groß: zwei Lehrsäle, zwei Zimmer für den Musikunterricht, ein Bibliotheks-und Instrumentenraum, ein Schlafsaal für 30 Personen, ein Krankenzimmer, ein Speisesaal, eine Waschküche, zwei Abtritte, zwei bis drei Lehrerzimmer sowie eine Seminarleiterwohnung hatte er eingeplant. Er forderte für sich fünf Stuben, drei Kammern, Küche und Keller sowie einen Stall. Diesterweg musste jedoch beständig um eine bessere Ausstattung des Seminars kämpfen, aber auch dafür, dass seine Seminaristen Stipendien bekamen. In diesen Jahren begründete er seinen Ruf als Experte für die Volksbildung. Davon zeugen zahlreiche Bücher, Aufsätze und die von ihm als Herausgeber und Autor begründeten "Rheinischen Blätter für Erziehung und Unterricht". In Moers machte er sich für eine Armenschule stark. In der Chronik berichtet er: “Die Umstände haben es zu unsrem großen Schmerze nicht möglich gemacht, die Kinder am Tage in die Schule zu führen. Nun müssen die armen Armenkinder (Fabrikkinder!) in den Stunden des Feierabends an das ABC." Diesterweg blieb zwölf Jahre in Moers. 1832 wechselte er nach Berlin. Sein Nachfolger als Direktor am evangelischen Lehrerseminar wurde Franz Ludwig Zahn. Diesterweg starb 1866 in Berlin an einer Cholera-Infektion.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort