Moers Es lohnt sich, für die Freiheit zu kämpfen

Moers · Sechs Jahre hat das DDR-Regime Anfang der 1980er-Jahre Jutta Gallus und ihre Töchter getrennt. Gallus, der Republikflüchtling, hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Mädchen wieder zu bekommen. Von ihrem Kampf berichtete die Frau, die jetzt Jutta Fleck heißt, bei der Vertreterversammlung der Volksbank Niederrhein.

 Dieses Bild ging um die Welt: Jutta Gallus demonstriert am Checkpoint Charlie, fordert Hilfe im Kampf um ihre Töchter.

Dieses Bild ging um die Welt: Jutta Gallus demonstriert am Checkpoint Charlie, fordert Hilfe im Kampf um ihre Töchter.

Foto: Kalaene/privat

Berlin, 13. August 1986, Jutta Gallus' Knie sind weich, ihr Puls rast. Gallus hat Angst. Sie weiß: Jetzt muss es sein, jetzt muss sie ans Rednerpult. Gerade noch hat Willy Brandt bei einer Gedenkveranstaltung an eben diesem Rednerpult im Reichstag über Familienzusammenführungen gesprochen, gleich will Jutta Gallus dort stehen. Sie hat sich vorbereitet, ein Bettlaken mit ihrer Botschaft beschrieben, darüber ein weites Shirt gezogen, damit keiner das Laken sieht und sie womöglich aus dem Verkehr zieht. "Keine Großen Sprüche - vier Jahre Trennung von meinen Kindern sind genug" steht auf dem Laken. Gallus steht auf, läuft zum Rednerpult. Ihre Knie machen mit, tragen sie dorthin, wo eben noch der Mann stand, der 1961, im Jahr des innerdeutschen Mauerbaus, Regierender Oberbürgermeister in Berlin war. "Wann wird die DDR endlich in die Pflicht genommen, die Menschenrechte einzuhalten? Claudia und Beate, wenn ihr mich jetzt seht, sollt ihr wissen, dass ich nicht lockerlassen werde, bis ihr bei mir seid. Haltet durch", sagt sie mit sehr fester Stimme. Bundeskanzler Helmut Kohl, der eigentlich direkt nach Brandt an der Reihe gewesen wäre, geht auf die Frau mit dem Laken zu, schiebt Gallus vom Rednerpult, ohne ein Wort zu sagen.

"Die Öffentlichkeit hat uns sicher geholfen", sagt die blonde Frau, die heute nicht mehr Gallus, sondern Fleck heißt, in dieser Woche bei der Vertreterversammlung der Volksbank Niederrhein. Fleck kennen die meisten Deutschen als "Die Frau vom Checkpoint Charlie", als die Frau, die die DDR-Regierung wegen versuchter Republikflucht angeklagt hatte und der sechs Jahre lang ihre Kinder vorenthalten wurden. Hätte Fleck damals Berge versetzen müssen, um ihre Töchter Claudia und Beate zurückbekommen zu müssen, sie hätte es getan. Was sie in Wirklichkeit getan hat, kam dicht an Bergeversetzen heran. Davon erzählte sie in Rheinberg.

Gallus, nach ihrer Scheidung im Jahr 1981 alleinerziehend, lebt mit ihren Kindern in Dresden. Sie, Jahrgang 1946, ist zu einer Zeit groß geworden, als sie noch ohne Probleme zu den Verwandten nach Bad Oeynhausen reisen konnte. Sie weiß, wie es sich anfühlt, das Leben selbst zu gestalten. In Freiheit leben, das ist der größte Wunsch der jungen Frau für sich und ihre beiden Kinder. Sie stellt einen Ausreiseantrag, einen zweiten, einen dritten, viele - und bekommt keine Reaktion.

Anfang der 80er Jahre fasst sie einen Entschluss: Jutta Gallus will fliehen. Sie trifft sich mit einer Flüchtlingsorganisation, arbeitet einen Plan aus. Offiziell soll es für die kleine Familie von Dresden nach Rumänien an das Schwarze Meer gehen. Eigentlich aber will Gallus mit ihren neun und elf Jahre alten Mädchen über die Donau in den Westen fliehen.

Das Drama beginnt, als die Papiere der drei gestohlen werden. In der bundesdeutschen Botschaft in Bukarest kann Gallus zwar unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Ersatzpapiere als Familie Lindner aus Bad Oeynhausen erschleichen. Doch sie fliegt auf. Gallus wird am 1. Dezember 1982 an die DDR überstellt und, für die junge Frau am schlimmsten, sofort von ihren Kindern getrennt. Zwölf Stasi-Leute bewachen Gallus, die ab sofort den Stempel "Republikflüchtling" trägt. Sie darf sich nicht von ihren Kindern verabschieden, Sichtkontakt gibt es nur durch ein kleines Bullauge im Flugzeug. "Wir schaffen das", rufen ihr die Mädchen zu. Gallus bricht das Herz. Es soll ihr noch viele weitere Male brechen.

Gallus wird ins DDR-Frauengefängnis Hoheneck gebracht, Claudia und Beate kommen erst in das Kinderheim Munzig bei Meißen, dann zu ihrem Vater in die DDR. "Ich wurde in einen Raum voller Spiegel gebracht. An den Wänden, an der Decke, auf dem Boden. Ich musste mich ausziehen und wurde untersucht", berichtet Fleck den Volksbank-Vertretern. Mehrfach muss sie diese Prozedur durchstehen. Im Januar 1983, Mutter und Töchter sind schon Monate voneinander getrennt, wird Gallus wegen eines "schweren Falles von Republikflucht" zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn sie nicht kooperiert, muss sie auf blankem Stein schlafen; immer wieder erzählt man ihr, ihre Töchter dächten ohnehin nie an sie; immer wieder wird sie befragt. Mitten in der Nacht, stundenlang, so sieht Willkür aus. Und doch: Die DDR schafft es nicht, Gallus zu brechen. Im Gegenteil. "Dort drinnen wirst du stark, weil du so etwas nie wieder erleben willst", sagt Jutta Fleck und schaut ins Publikum in Rheinberg. Aufgeben, sich hängen lassen, die Dinge einfach annehmen, wie sie sind, all das liegt Gallus nicht. "Ich wollte das durchstehen", sagt sie. Für ihre Kinder, für das Wir, das die DDR ihr genommen hatte.

Im April 1984 endet dieses Kapitel, die Bundesrepublik kauft Jutta Gallus zusammen mit anderen Häftlingen frei. Doch der Preis für ihre Freiheit ist hoch. Sie verliert das Erziehungsrecht für ihre beiden Töchter. Gallus zieht nach Gießen, "ich mache alles", sagt sie, weil sie weiß, dass sie ihre Mädchen nur über den Druck der Öffentlichkeit und vom Westen aus zurückgewinnen kann - und sie sucht diese Öffentlichkeit gezielt. Gallus bekommt eine Audienz bei Papst Johannes Paul II. in Rom, sie kettet sich zum zehnten Jahrestag der KSZE-Konferenz an ein Geländer, spricht mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher über das Schicksal ihrer Kinder, sie nimmt Kontakt auf zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Und: Gallus wagt sich zurück in die Nähe der DDR. Ab Oktober 1984 protestiert die Mutter am Checkpoint Charlie mit einem großen Schild und vielen Bildern ihrer Töchter, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. 1986 der Auftritt im Reichstag. "Das könnte uns jetzt ein Jahr kosten", befürchtet sie. Der Grat, auf dem sie mit ihren Aktionen wandelt, ist schmal. Danach: Willen, Kampf, unendlich viel Beharrlichkeit.

1988 fahren ihre Töchter Beate und Claudia, die immer noch beim Vater in der DDR wohnen, auf eigene Faust nach Ost-Berlin. Statt zur Schule zu gehen, setzen sie sich in den Zug, suchen in der Hauptstadt der DDR den Mann auf, der bekannt dafür ist, Menschen in ihrer Situation zu helfen: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. "Wir wollen Ihnen nur sagen, dass wir zu unserer Mama wollen", sagen sie. Vogel verspricht, zu tun, was er kann, und er tut tatsächlich, was er kann, unterstützt die 15 und 17 Jahre alten Jugendlichen bei ihrem Ausreiseantrag. Dem Antrag wird stattgegeben, das Erziehungsrecht wird wieder auf die in der Bundesrepublik Deutschland lebende Jutta Gallus übertragen. Nie zuvor ist das in der DDR-Geschichte vorgekommen. "Das muss jetzt schnell gehen", soll Staatsoberhaupt Erich Honecker gesagt haben. Das Interesse der West-Medien an dem Fall und der Frau mit dem Löwenmut war ihm zu groß.

Berlin, 26. August 1988. Jutta Gallus wartet in einem Berliner Anwaltsbüro auf ihre Mädchen. Nachts konnte sie kaum schlafen, jetzt will die Zeit bis 13 Uhr - dem geplanten Übergabezeitpunkt - kaum vergehen. Eigentlich sollten Mutter und Töchter sich im Bundeshaus treffen, doch dort war der Presseauflauf zu groß. Ein goldener Mercedes rollt auf das Gebäude zu, in dem sich die Kanzlei befindet. Darin: Claudia und Beate Gallus. Auf den Tag genau sechs Jahre nach ihrer Trennung sind die drei wieder vereint. Das Kämpfen hat sich gelohnt. Ganz sicher sind Traumata aus dieser Zeit zurückgeblieben, Narben, die nie mehr ganz verblassen. Was das Regime aber wollte, hat es nicht geschafft - Jutta Gallus und ihre Kinder zu brechen. Im Gegenteil: "Unsere demokratischen Grundwerte müssen jeden Tag verteidigt werden", sagt die blonde, kleine Frau, die da gerade am Rednerpult in Rheinberg steht. Sie sagt es in einem Ton, der kein kleines bisschen Widerspruch duldet.

In rund zwei Monaten, Ende August, ist es wieder so weit: Jutta Fleck und ihre beiden Töchter feiern Wiedervereinigung. Ihre ganz eigene.

(RP)
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