Moers "Ich war von Angst erfüllt"

Moers · Die Moerser Journalistin Hedi Meinecke erinnert sich an die Befreiung der Grafschaft vor genau 70 Jahren. "Noch heute denke ich oft an diese Zeit zurück", sagt sie. Es waren leidvolle Tage.

 US-Amerikaner nehmen den Moerser Neumarkt ein.

US-Amerikaner nehmen den Moerser Neumarkt ein.

Foto: NS-Dokumentation

Als der Krieg in der Grafschaft ein Ende fand, war ich 15 Jahre alt und von Angst erfüllt. Es war eine schlimme, unsichere Zeit. Es verging kaum ein Tag ohne Alarm, ständig mussten wir in den Luftschutzkeller. An einen normalen Alltag war trotz aller Bemühungen nicht zu denken.

Als heutige Wahl-Moerserin erlebte ich das Ende des Zweiten Weltkrieges als Xantenerin - und als Schülerin der dortigen Marienschule, einer private Mädchenschule. Dem Tag der Befreiung gingen heftige Angriffe voraus, immer wieder verkündete die Klingel: Auf in den Luftschutzkeller des Domes! Als aber die Bombardierung der Stadt ihren Höhepunkt erreichte, wurde die Schule aus Sicherheitsgründen geschlossen. Ich erinnere mich, dass ich in der Ferne schon die Granateneinschläge gehört habe, die das Anrücken der Kampffront ankündigten. Die Jabos, die alliierten Jagdbomber, gehörten zum Tagesablauf - immer wieder zogen Fliegerverbände über die Stadt.

 Überlebende sammeln ihr Hab und Gut zusammen, unter anderem Fahrräder und Möbel.

Überlebende sammeln ihr Hab und Gut zusammen, unter anderem Fahrräder und Möbel.

Foto: ""

Das eigentliche Einrücken der Alliierten verlief dann relativ geräuschlos. Die Menschen auf der Straße erzählten sich, dass in den meisten Dörfern im Norden die sich zurückziehenden deutschen Soldaten zuvor noch die Kirchtürme sprengen wollten, um zu verhindern, dass die Amerikaner sie zur Beobachtung des rechten Rheinufers benutzen konnte. So fiel am 2. März zum Beispiel der Turm der katholischen Kirche in Obermörmter - vom Ostufer des Rheins aus zerstörten deutsche Truppen auch noch den Kirchturm von St. Nikolaus in Orsoy.

Am 5. März begann dann die von den Alliierten angeordnete Totalevakuierung für den nördlichen Bereich nach Bedburg. Wir wurden auf Lastwagen verfrachtet und in die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt gebracht. In überfüllten engen Räumen der Einrichtung, auch in Kirchen, blieben wir dann unter denkbar ungünstigen Umständen etwa sechs Wochen. Eine Zeit, an die ich in diesen Tagen wieder erinnert werde.

Es kamen auch Nachrichten aus Moers an. Wir hörten beispielsweise, dass ein letztes Feuergefecht damals den Wasserturm im Moerser Ortsteil Vinn zerstört hatte. Ein Artillerieduell zwischen einem verzweifelt kämpfenden Stoßtrupp der deutschen Wehrmacht und den anrückenden Einheiten der 84. amerikanischen Infanteriedivision legte das Wahrzeichen in Schutt und Asche. Das war in der Nacht vom 3. zum 4. März 1945. In der Morgendämmerung des 4. März erreichte die Divisions-Spitze die Moerser Stadtgrenze. Von Südwesten, von der Krefelder Straße aus, rückten die amerikanischen Soldaten über die Steinschen-Kreuzung in die Stadt ein. Weiße Fahnen auf Häusern, Bunkern und Kirchtürmen signalisierten die Kapitulation der Zivilbevölkerung.

Zermürbende Luftangriffe und Flächenbombardements waren dem Einmarsch vorausgegangen. Bomben fielen Tag und Nacht, zerstörten ganze Straßenzüge, richteten verheerende Schäden in der Rheinpreussen-Siedlung in Meerbeck an. Das historische Gebäude des Hotel-Restaurants "Königlicher Hof" fiel den immer heftiger werdenden Angriffen zum Opfer, ebenfalls das Gymnasium Adolfinum. Wie groß die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung war, lässt sich exakt nicht mehr feststellen. Zu den Verlusten der deutschen Wehrmacht heißt es in einem Lagebericht der US-Streitkräfte lapidar: "Die Schlacht um den Niederrhein kostete die deutsche Wehrmacht 38 000 Gefallene beziehungsweise Verwundete und 51 618 Gefangene."

Zu den Ereignissen in den ersten Märztagen des Jahres 1945 heißt es im "Grafschafter": "Auf Jeeps montierte Lautsprecher diktierten Anweisungen der amerikanischen Militärbehörde: 'Ich, Dwight D. Eisenhower ...' und sie gaben alsdann die Ablösung der deutschen Regierung durch die Streitkräfte bekannt. Als bitter habe man die Erklärung empfunden: "Wir kommen nicht als Befreier, sondern als Sieger."

Eine sofort verhängte Ausgangssperre erlaubte der Bevölkerung nur einen einstündigen Ausgang, von 12 bis 13 Uhr. Moerser erzählten, dass die Männer aus Texas, Massachusetts, Utah, Minnesota und Indiana schwer bewaffnet mit ihren "erbeuteten" Fahrtenmessern, Schleppsäbeln, Hakenkreuzfahnen und Zylinderhüten durch die Straßen gezogen seien, ihre helle Freude daran gehabt hätten, sich in der Uniform des "Kreisleiters" fotografieren zu lassen und nach der Musik der "gefundenen" Schallplatten zu tanzen.

Verstohlen beobachteten die Moerser Bürger das fremde Leben in der Stadt hinter verschlossenen Fenstern und zugezogenen Gardinen.

Noch heute denke ich oft an die Zeit vor 70 Jahren zurück. Es sind dunkle Erinnerungen - erst der milde und sonnige Frühling des Jahres 1945 brachte etwas Erheiterung in die leidvollen Tage.

Hedi Meinecke schreibt seit Jahrzehnten für die Rheinische Post. In diesem Zeitzeugenbericht erinnert sie sich an die Befreiung der Grafschaft durch die Amerikaner vor 70 Jahren.

(h-m)
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