Rheurdt/Neukirchen-Vluyn "Nur die Stunden singe ich nicht aus"

Rheurdt/Neukirchen-Vluyn · Peter Pechmann aus Rheurdt, ehemaliger Stadtarchivar in Neukirchen-Vluyn, spielt bei Führungen den Nachtwächter.

 Peter Pechmann aus Rheurdt ist bei Führungen in Neukirchen-Vluyn oft als Nachtwächter unterwegs.

Peter Pechmann aus Rheurdt ist bei Führungen in Neukirchen-Vluyn oft als Nachtwächter unterwegs.

Foto: Arnulf Stoffel

Wenn es Abend wird in Neukirchen, dann ist in den Straßen des Ortskerns regelmäßig eine Gestalt mit Hellebarde, Horn und Laterne zu sehen, die stets einen Gruppe interessierter Zuhörer mit sich führt. Peter Pechmann aus Rheurdt spielt seit einigen Jahren bei seinen Ortsführungen einen Nachtwächter und das mit großem Erfolg. "Führungen habe ich zusammen mit Heide Schmitt auch schon vorher gemacht", erzählt der 69-Jährige. "Aber seit wir die Nachtwächterführungen anbieten, ist die Resonanz noch größer geworden." Das bestätigt auch Frank Grusen vom Stadtmarketing: "Wir müssen Interessierte auf die Warteliste setzen, weil der Andrang so groß ist."

Peter Pechmann war jahrzehntelang Stadtarchivar von Neukirchen-Vluyn, nun ist er im Ruhestand. Dabei hatte der gebürtige Thüringer zunächst mit dem Thema Geschichte wenig zu tun. Er absolvierte eine Lehrer als Fernmeldetechniker und studierte dann Architektur. Dass er quasi als Seiteneinsteiger zum Hüter der Ortshistorie wurde, betrachtet er noch heute als besonderes Glück. "Auch wenn ich Pechmann heiße", sagt er und lacht. "Die Arbeit als Stadtarchivar hat sich als mein Traumberuf entpuppt."

Wenn er im Kostüm die Gruppen durch das dämmrige Neukirchen führt, beginnt der Weg stets bei der Dorfkirche, dem ältesten Bauwerk im Ort. Viele Fakten und Anekdoten seien selbst Alteingesessenen oft nicht bekannt, so Pechmann. Eine Attraktion ist beispielsweise das "Lehmhaus" an der Gartenstraße. Auch Geschichten über alte Gaststätten, in denen die Neukirchener es sich gut gehen ließen, kann Pechmann berichten.

Die Idee zu den Nachtwächterführungen sei entstanden, als die Stadt Anfragen bekam, ob man nicht eine abendliche Führung veranstalten könnte, das sei für Berufstätige zeitlich bequemer. Pechmann suchte sich zu diesem Anlass ein Nachtwächterkostüm zusammen.

Zunächst habe ich mir einen Umgang besorgt, dann das Hemd und den Hut." Sein Neffe, der in der Mittelalterszene aktiv sei, habe ihm geholfen, die Kleidungsstücke zu finden. Historisch authentisch sei das Kostüm allerdings nicht.

Zunächst machte Pechmann die Führungen mit einem Hirtenstab in der Hand. Aber natürlich braucht ein Nachtwächter eine Hellebarde, die fand Pechmann übers Internet. "Es ist keine original ,deutsche' Hellbarde", erklärt er. "Die hatten oben noch einen Spieß." Aber auch dieses Modell ist schwer genug. Übrigens darf man sich diese Waffe nicht einfach so zulegen. "Ich habe eine Genehmigung von der Polizei." Das Horn fand er bei einem Besuch im thüringischen Rudolstadt, man kann auch damit tuten. "Mundstücke an den Hörnern sind bei Nachtwächtern verpönt", sagt Pechmann, der inzwischen eine Reihe von Kollegen kennengelernt hat. "Zum Beispiel den Nachtwächter von Rees, der zugleich Vorsitzender der Gilde der Nachtwächter und Türmer in Deutschland ist."

Pechmann hat sich in das Thema Nachtwächter gründlich eingelesen. "In Neukirchen selbst hat es offenbar nie einen gegeben", berichtet er. "Aber in Vluyn ist ein Mann belegt, der Ende des 18. Jahrhunderts in einem Kirchenbucheintrag als ,der hiesige Nachtwächter' bezeichnet wird."

Der wahre Alltag der Laternenträger war allerdings nicht so romantisch, wie man sich das heute vielleicht vorstellt. "Die Nachtwächter standen in der sozialen Rangfolge ganz weit unten", erklärt Peter Pechmann. Ihre Aufgaben waren, vor Feuer zu warnen, zu prüfen, ob die Tore der Stadt gut verschlossen waren und ein Auge auf mögliche Diebe und Einbrecher zu haben. Außerdem riefen sie die Stunden aus. "Das hatte zwei Gründe", erklärt Pechmann. "Erstens hatten die Leute in früheren Zeiten oft keine Uhren. Zweitens wurde durch diese Pflicht sichergestellt, dass der Nachtwächter sich nicht in einem stillen Winkel zum Schlafen zurückzog." Pechmann selbst singt die Stunden allerdings nicht aus: "Das möchte ich den Leuten nicht zumuten." Übrigens hatten die Wächter auch Polizeigewalt, konnten also im Ernstfall Strolche festnehmen. Diese Befugnis haben die Nachtwächter heute nicht mehr - doch es gibt Ausnahmen. "Zum Beispiel mein Kollege in Viersen-Dülken", sagt Pechmann amüsiert. "Der ist nämlich im Hauptberuf Polizist."

(s-g)
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