Das Bergwerk-West schließt Schicht im Schacht Kamp-Lintfort

Kamp-Lintfort · Heute wird auf dem Bergwerk West in Kamp-Lintfort zum letzten Mal Kohle gefördert. Zum Jahresende schließt das Steinkohlebergwerk endgültig. Damit sind bundesweit nur noch drei Zechen in Betrieb.

Das Bergwerk-West schließt: Schicht im Schacht Kamp-Lintfort
Foto: Kress

Marcello Ulbl ist seit 32 Jahren Bergmann. Im Bergwerk West in Kamp-Lintfort kennt der 48-Jährige sich aus wie kaum ein anderer seiner Kumpel. 29 Jahre arbeitete der Familienvater unter Tage — im Streckenvortrieb, bei der Herrichtung, in der Logistik, in der Instandhaltung. Seit drei Jahren macht er die Öffentlichkeitsarbeit seiner Zeche.

"Ich musste an die Zukunft denken. Es war schon früh zu erkennen, dass der Bergbau in Kamp-Lintfort endlich ist", sagt er. Heute fördern seine Kumpel die letzte Kohle aus der Tiefe, am 31. Dezember schließt die letzte Niederrhein-Zeche, ein weiteres Stück Bergbaugeschichte geht damit zu Ende.

400.000 Kumpel ernährten ihre Familien

Nach dem Saarland verabschiedet sich mit dem Niederrhein in diesem Jahr schon zum zweiten Mal eine deutsche Region von ihren Zechen. Der Bergbau an der Saar ist seit Sommer Geschichte, heute wird in Kamp-Lintfort die letzte Tonne Kohle gefördert. Danach gibt es in Deutschland nur noch drei Steinkohlebergwerke: Prosper-Haniel in Bottrop, die Zeche Ibbenbüren im Münsterland und Auguste Victoria in Marl. Vor gut fünf Jahrzehnten wurden allein im Ruhrgebiet noch in 140 Zechen über 125 Millionen Tonnen Steinkohle gefördert. Fast 400.000 Kumpel ernährten damals mit dem Schwarzen Gold ihre Familien und gaben dem Ruhrgebiet ein Gesicht. Im nächsten Jahr werden es nur noch etwas mehr als 10 000 sein, und ab 2018 bleibt von dieser großen Geschichte nicht viel mehr als ein Bergbaumuseum in Bochum übrig.

Weil die Flöze hier oft 1000 Meter unter der Erde liegen, ist der deutsche Steinkohlebergbau zu teuer geworden. In Australien, Amerika und Südafrika schürfen die Bergleute sie im Tagebau. Damit die deutsche Steinkohle trotzdem eine Chance auf dem Weltmarkt hat, mussten die Steuerzahler sie seit 1997 mit durchschnittlich mehr als drei Milliarden Euro pro Jahr unterstützen. So viel Staatshlife bekommen in Deutschland sonst nur Landwirte. Weil der Staat sich das kaum noch leisten kann und will, wird die letzte deutsche Steinkohlezeche in fünf Jahren geschlossen.

Wie heute in Kamp-Lintfort, wo zuletzt 2510 Kumpel nach Kohle gruben, stirbt mit dem Ende der Subventionen in NRW ein ganzer Industriezweig. Und ein deutscher Mythos: Nirgendwo auf der Welt hat die Kohle das Selbstbild eines Landes über Jahrzehnte so geprägt wie in NRW. Mit der Kohle wurde das deutsche Wirtschaftswunder befeuert, die Kumpel standen zeitweilig an der Spitze der Lohnskala.

An den Zahltagen umlagerten fliegende Händler aus ganz Deutschland die Zechentore, Schneider verpassten den Bergleuten Maßanzüge. Als in den 1960er Jahren das große Zechensterben begann und an der Ruhr die schwarzen Fahnen wehten, löste in NRW erstmals die Sozialdemokratie die bis dahin katholisch geprägte Arbeiterkultur der CDU an der Macht ab.

Ausstieg ohne Kündigungen?

Marcello Ulbl begann seine Ausbildung zum Berg- und Maschinenmann vor 32 Jahren auf der Zeche in Kamp-Lintfort, auf der sein Vater schon 1961 angeheuert hatte. "Er kam aus einer Region in Sardinien, wo ebenfalls Kohle gefördert wurde. Später erzählte er uns, wie er nach Deutschland kam und glaubte, dass es hier ausschließlich Bergbau gibt."

Die Ursprünge des Bergbaus am linken Niederrhein reichen bis 1854 zurück. Am 6. Mai des Jahres — in den USA hatten die neu gegründeten Republikaner gerade ihren Kampf gegen die Sklaverei aufgenommen — wies der Bergbaupionier Franz Haniel mit einer Probebohrung in der Nähe von Homberg erstmals Kohleflöze nach. Im Juni 1912 kam aus dem Grubenfeld des Bergwerks Friedrich Heinrich, das später im heutigen Bergwerk West aufging, die erste Tagesförderung mit 50 Tonnen Kohle. Knapp hundert Jahre später stellten die Männer von Kamp Lintfort mit einer Tagesförderung von 17.000 Tonnen einen bis heute bewunderten Rekord auf.

Die RAG, die den Rest des deutschen Steinkohlebergbaus betreibt, will den Ausstieg ohne Kündigungen schaffen. Für die Männer von Kamp-Lintfort heißt das vor allem: Vorruhestandsregelungen, Abfindungen oder einen neuen Job auf einer der verbliebenen drei Zechen. Die Auswirkungen auf Kamp Lintfort sind derzeit noch nicht absehbar. Auf dem Bergwerksgelände, das bis an die Innenstadt reicht, sollen sich Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe ansiedeln. Die benachbarte Hochschule Rhein-Waal soll dabei als Jobmotor fungieren. Auf dem Schienennetz der Zeche könnte eine Regionalbahn Duisburg, Moers und Kamp-Lintfort verbinden — wofür neue Fördertöpfe nötig wären.

Auch wenn heute auf "Friedrich-Heinrich" die letzte Kohle zu Tage gefördert wird, ist für Marcello Ulbl erst am 30. September des kommenden Jahres Schluss. Dann geht er mit 49 Jahren in die Langzeitkurzarbeit, mit 50 folgt der Vorruhestand. "Ich werde auf der Zeche, auf der ich zum ersten Mal eingefahren bin, den Abschluss finden", sagt er und hofft, dass mit der Stilllegung der Zeche das Bergbau-Erbe in der Stadt "nicht einfach abgeschrieben wird".

(RP/top/csi)
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