Heimat entdecken in Nettetal Als die Eisenbahn auf dem Wohnzimmertisch Runden drehte

Nettetal · Die Rokal-Freunde Lobberich schweißt die Begeisterung für Modellbahnen zusammen, die zwischen 1947 und 1971 in ihrem Heimatort entwickelt und gebaut wurden. Manche sammeln die Modelle, um sie auszustellen. Andere aber wollen einfach nur mit dem Spielzeug spielen

 Sieben Meter lang ist die transportable Anlage von Ralf und Richard Nolde. Sie kann zerlegt und überall aufgebaut werden.

Sieben Meter lang ist die transportable Anlage von Ralf und Richard Nolde. Sie kann zerlegt und überall aufgebaut werden.

Foto: Busch

In das Stimmengewirr im Hinsbecker Parkstübchen mischt sich ein leises Surren. Männer stehen vor einem großen Brett, auf das jemand eine kleine, künstliche Landschaft modelliert hat. Eine kleine Dampflok kämpft sich tapfer eine Steigung hinauf. Sie beginnt mit einer Rampe, geht über in eine lange Brücke und überquert Äcker, Wiesen, Bäume und eine lose Ansammlung kleiner Plastikhäuser. Der Zug verschwindet im Hintergrund in einer Kurve, die nun nach unten in die Ebene führt.

Die kleine Lok produziert das leise Surren. Das Geräusch signalisiert den Kundigen: Alles in Ordnung, die Technik funktioniert. In dem Pavillonbau haben sich Gleichgesinnte zusammengefunden, die alle einem Hobby frönen. Sie lieben ihre Spielzeugeisenbahn. Die hier, um die sich alle Gespräche und Fachsimpeleien drehen, sind eine Rarität. Es sind die im TT-Maßstab zwischen 1947 und 1971 produzierten Eisenbahnen der Lobbericher Firma Rokal. Behaupten musste Rokal sich damals gegen die H0-Modelle von Märklin, Fleischmann oder Trix, die überwiegend zu Weihnachten unterm Baum standen. Table-Top-Modelle - daher das Kürzel TT - waren kleiner. Das war in beengten Wohnstuben zweifellos ein Vorteil. Sie konnten auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut und betrieben werden, daher auch die Bezeichnung Tischmodelle. Der H0-Maßstab ist dafür schlicht zu groß. Die Landschaft, auch Diorama genannt, mit den eingebetteten Schienen, verlangte nach einer großzügigeren Unterlage.

Mehr als 45 Jahre nach dem Ende der Modell-Produktion in Lobberich fühlen sich Männer - ja, es sind ausschließlich Männer - der Rokal-TT-Eisenbahn enger verbunden denn je zuvor. Sie haben vor einiger Zeit einen Stammtisch ins Leben gerufen. Die meisten Rokal-Freunde kommen aus Nettetal und der engeren Umgebung. Bei so großen Treffen wie jetzt hier im Parkstübchen, reisen Rokalisten aus dem gesamten (westdeutschen) Bundesgebiet, den Niederlanden und Belgien an. Die Nähe zum Produktionsstandort Lobberich hat dafür gesorgt, dass so viele Rokal-Freunde in Nettetal und Umgebung zu finden sind. Aber durch den Lokalpatriotismus, den Stolz darüber, dass in Lobberich eine so famose Modellbahn entwickelt und gebaut wurde, schimmert etwas anderes. Weil Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl, eine Bindung ist, fühlen sich die Rokal-Freunde heimisch an ihrem Stammtisch und bei der großen Schau. Es ist gleichgültig, woher sie kommen.

Auf der Straße vor dem Parkstübchen steht ein Auto mit Darmstädter Kennzeichen. Der Fahrer ist ausgestiegen und trägt vorsichtig einen Karton ins Innere. Sorgsam packt er in einer Ecke den Karton aus. Eine Elektro-Lokomotive kommt zum Vorschein. Vorsichtig trägt er sie zu einer Anlage, die immer wieder besondere Aufmerksamkeit findet. Ralf Nolde aus Lobberich hat sie geplant und gebaut. Es handelt sich um eine sieben Meter lange, gut einen Meter breite Anlage, auf der Züge eine richtig lange Strecke fahren und an den beiden verbreiterten Enden durch eine Kurve und wieder auf die "Paradestrecke" zurückkehren. Liebevolle Details der Landschaft machen daraus eine sehr schöne Fahranlage.

"Darf ich die mal fahren lassen?" fragt der Besitzer der Lokomotive. Richard Nolde, der Sohn von Ralf Nolde, nickt. Er hält einen Zug an und macht das Gleis frei. Vorsichtig setzt er die Lokomotive auf die Schienen. Ein kurzer Test mit dem Transformator - die Lok funktioniert und rollt los. Mit glänzenden Augen schaut der Besitzer zu, wie sich sein Prachtstück über die Anlage bewegt. Leise surrend, problemlos, ohne Störungen.

"Rokal-Freunde kommen gerne zu unseren Treffen, um mal eine einzelne Lok oder auch einen ganz Zug fahren zu lassen", erzählt Ralf Nolde. Die lange Anlage besteht aus neun Modulen, die vergleichsweise schnell ab- und aufgebaut sowie transportiert werden können. Er freut sich, dass sein Sohn die Liebe zur Modelleisenbahn teilt. Er ist Mitte zwanzig - einer der wenigen jungen Menschen, die an diesem Tag im Parkstübchen dabei sind.

Nolde senior ist typisch für die Modellbahn-Fans an diesem Ort. Nach der Kindheit und Jugend fehlte die Zeit, sich um die Bahn intensiver zu kümmern. Familie und Beruf gingen vor. Jetzt, gegen Ende des Berufslebens oder danach, kehren viele zurück in dieses verheißungsvolle Land aus Technik und Träumen, das ihnen ein Stück Heimat gibt.

"Wir unterscheiden uns in zwei Gruppen", sagt Nolde. "Die einen sammeln akribisch jedes Modell und stellen es in eine Vitrine. Sie haben das Ziel der Vollständigkeit einer Modellreihe. Dafür nehmen sie viel Mühe in Kauf und sind oft auch bereit, viel Geld zu investieren. Die anderen, zu denen zähle ich mich, sammeln nicht. Sie wollen die Modelle im Betrieb sehen. Sie müssen fahren, das war schließlich von Beginn an ihre Mission."

Zwölf vollständig unterschiedliche Anlagen stehen hier. Nolde zeigt auf eine, für den Laien, recht unscheinbare Landschaft. Die Gleise sind als Oval angelegt, über Weichen können Züge außerdem eine Trasse quer über die Anlage befahren. Im Hintergrund führt eine lange, flache Brücke über einen aufgemalten See. Die Platte ist ausgeschnitten und an dieser Stelle tiefer gelegt. Überraschend waren für Nolde zwei Dinge: Es handelt sich wohl um eine Anlage, die gegen Ende der Produktionszeit bei Rokal Händlern zu Vorführ- und Werbezwecken zur Verfügung gestellt wurde. Und sie trägt die Handschrift von Manfred Lünenschloss, einem Künstler und selbstständigen Spielzeugbauer. Nolde hat die Historie der Anlage sorgsam aufgearbeitet und auf seiner Homepage dokumentiert.

Ihn fasziniert außerdem die Technik. Sie ist im Vergleich zu den digitalen Anlagen heute simpel und eingängig. Aber die Digitalisierung hat enorme Preisschübe mit sich gebracht. Gerade deswegen reizt es die Rokal-Freaks, ihre Technik zu bewahren und auch weiterzuentwickeln. Nolde hat auf analoger Basis eine technische Innovation für den Fahrverkehr entwickelt, die mit den Vorzügen einer digitalen Steuerung Schritt halten kann.

Bei aller intensiven Beschäftigung mit der Rokal-Historie, technischen Feinheiten und dem Streben nach Authentizität besteht für Nolde der Reiz im Betrieb. "Wir kommen auch zusammen, um zu spielen", sagt er.

(RP)
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