Nettetal Auf der Heide keine Klängerkultur mehr

Nettetal · Nach fast 140 Jahren hat die Traditionsgaststätte Boos-Stiels auf der Breyeller Straße am Sonntag geschlossen. Die Suche nach einem Nachfolger war bisher vergeblich. Möglicherweise wird das Haus zu anderen Zwecken umgebaut.

 Werner Stiels und Ehefrau Margret haben am Sonntag zum letzten Mal ihren Gästen die Gläser gefüllt, als die Fässer geleert werden mussten. Die Gaststätte mit dem kleinen Saal ist jetzt geschlossen.

Werner Stiels und Ehefrau Margret haben am Sonntag zum letzten Mal ihren Gästen die Gläser gefüllt, als die Fässer geleert werden mussten. Die Gaststätte mit dem kleinen Saal ist jetzt geschlossen.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Ratlosigkeit herrscht an der Theke. "Wo sollen wir denn demnächst unser Bier trinken?" fragen Gäste, die mal eben auf einen Feierabendtrunk in ihre Stammkneipe Boos-Stiels gekommen sind. Bei "Dammer", wie das Hotel Stadt Lobberich in der Hochstraße immer noch im alltäglichen Sprachgebrauch heißt? "Op den Tömp" auf der Süchtelner Straße? "Bei Helmut" auf der Wevelinghover Straße? Oder bei Dieter in der Hattrickhall an der Robert-Kahrmann-Straße? "Die Auswahl ist nicht mehr groß", zieht Karl-Heinz Haumer nachdenklich die Bilanz.

Deshalb bedauern alle an der Theke, dass Werner und Margret Stiels "auch in der Verlängerung 2015" keine Nachfolger gefunden haben und sich endgültig zurückziehen. "Da geht auch ein Stück Klängerkultur verloren", sinniert Wolfgang Koch, Karnevalsprinz i.R. "Hier erfuhr man bisher immer die Neuigkeiten des Ortes und konnte die besten Geschäfte anbahnen", verrät der Sparkassenmann mit hintergründigem Lächeln.

Seit dem 6. Dezember 1875 floss das Bier im Haus Breyeller Straße 31. Damals eröffnete Hermann Hillenbrands hier eine Gaststätte, die nach seinem Tode erst seine Frau und ab 1904 sein Sohn Johannes weiterführten. Er verkaufte sie 1922 an Heinrich Haus aus Kaldenkirchen. Der ging 1957 in den Ruhestand, als Josef und Cilly Boos in seiner Nachfolge die Wirtschaft übernahmen. Deren Tochter Margret und ihr Mann Werner Stiels übernahmen die Gaststätte 1978 und fungierten fortan als Wirte auf der "Heide".

Mit "Heide" wird in Lobberich die der Breyeller Straße mit Nebenstraßen bezeichnet. Hier entstanden die Karnevalsgesellschaften Heide-röslein (1928) und Fidele Heide (1936). Hier wurde gefeiert im Strandrestaurant Ludwigs am Nettebruch (längst abgebrochen), in der Königsburg (heute Möbel Busch), im "Tuddel" (geschlossen), im Heidekrug (schon lange geschlossen), bei Trittermanns (Beerdigungsinstitut Helgers), bei Feikes (heute Wohnhaus) und bei Hillenbrands/Haus/Boos/Stiels. Nun fällt die "Heide" trocken, wenn nicht ein Wunder geschieht und jemand das Anwesen für 199 000 Euro erwirbt.

Die Gaststätte war vor allem Vereinslokal der Bürgerschützen. Denn es gab neben dem Schankraum einen kleinen Saal (1906 gebaut und 1960 umgebaut). Er reichte samt dem Hofgelände aus für ein Schützenfest, das Josef Boos 1965 als ersten "Stadtkönig" sah (1964 war Lobberich Stadt geworden). Heimisch fühlten sich im Haus Breyeller Straße 31 auch der Bienenzuchtverein, der Modellflugclub, der Kleingartenverein Marfeld, die Lebenshilfe, die Jagdgenossenschaft, die Landfrauen, die Arbeiterwohlfahrt, die Tolkemiter, die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), die Kolpingsfamilie, die Behindertensportler, fast ein Dutzend Straßengemeinschaften, die Bruderschaft, der Turnverein und und und...

Im Saal sind zwischen 1920 und 1922 von Richard Jansen unter dem Markennamen "Rijalo" Zigarren hergestellt worden. Von 1922 bis 1924 betrieb die Kaldenkirchener Firma "Stein & Haus" eine Tabakschneiderei. Mit dem Saal war über viele Jahrzehnte auch eine Kegelbahn verbunden. Auf dem Hof gab es einen Schießstand, auf dem die Bürgerschützen und andere Vereine des "Westdeutschen Grenzschützenbundes" ihre Wettkämpfe austrugen. Im Saal übten einst auch Behindertensportler.

"Oben von der Niedieckstraße her" kommt Heinz-Willi Schiffer auf die "Heide", um noch "Kumpanei zu erleben". Die nahe Geselligkeit zum Feierabend schätzt auch Klaus van Megen, der wenige Häuser weiter wohnt und nicht mehr so gut zu Fuß ist. Jahrzehnte hat er hier Billard gespielt, jetzt trifft er sich sonntags noch zum Skatspiel. Künftig wird er zu "Dammer" gehen, wo Helmut Schatten Hausherr ist.

(mme)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort