Nettetal Den Sinn im Unsinn verstehen

Nettetal · Mit seinem großartigen Varieté-Programm eröffnete der Literaturakrobat Marcus Jeroch die 11. Nettetaler Literaturtage. Er war vor 20 Jahren der erste Künstler der Veranstaltungsreihe und begeisterte damals wie heute.

Das Bekenntnis kam gleich am Anfang: "Ich bin so ein Aufgeregter", gestand Marcus Jeroch. Um dann ganz aufregend mit Worten zu spielen wie mit Bällen und mit Bällen wie mit Worten. Den Sinn im Unsinn verstehen und Silben verdrehen, Arme verrenken und Hüte schwenken - dieser Literaturakrobat bot in der Werner-Jaeger-Halle eine Show sondergleichen. Er sorgte gleich zum Auftakt der Nettetaler Literaturtage für einen Höhepunkt. Und das machte Jeroch nicht zum ersten Mal.

"Es ist eine Ehre für uns, ihn nach 20 Jahren wieder zu begrüßen", hieß Ulrich Schmitter den Künstler auf der Bühne willkommen. So erinnerte der Vorsitzende des Vereins Nettetaler Literaturtage daran, dass mit Jeroch vor 20 Jahren die erste Veranstaltungsreihe begann. Er begeisterte sein Publikum damals wie heute.

Was Schmitter nicht sagte: Die Verpflichtung Jerochs zeugte damals schon für Kreativität des Vereins, gepaart mit Wagemut. Beides kennzeichnet seither die Nettetaler Literaturtage, deren Experimentierfreude ungebrochen ist. Nach dem Motto: weg von der Reihe stereotyper Vorleseabende, hin zum Reigen abwechslungsreicher Kulturveranstaltungen mit Ausflügen in literarische Grenzbereiche. Wie eben mit Markus Jeroch.

"Und die Moral von der Geschicht': Ich weiß es nicht!" Sprüche wie dieser ließen stutzen und zunächst vermuten: Der macht doch nur Unsinn. Machte er aber nicht. Wenn Jeroch Worte in ihre Bestandteile zerlegte, Silben umdrehte und vertauschte, ergab das immer einen Sinn. Und sei es nur, dass er die Sinnlosigkeit entlarvte, die manche Worthülsen bergen. Oder er entlockte dem Gesprochenen einen tieferen Sinn, der dem geschriebenen Wort nicht gleich entfleucht: "Wir sind gefahren" sprach er, was man auch schreiben könnte: "Wir sind Gefahren." Weshalb der 51-jährige Künstler schlussfolgerte: "Wir sind Risiken!"

Ja, der Dadaismus lebt, und wie! Leibhaftig in der Kunst des Marcus Jeroch, der Texte formulierte und verkörperte, als hätten sie sie ihm auf den biegsamen Leib geschrieben, die großen Lyrik-Experimentierer Friedhelm Kändler und Ernst Jandl. Diese Lautgedichte, die dichtete er laut nach, zerlegte, zersägte, sezierte sie genüsslich, Silbe für Silbe, Buchstabe für Buchstabe. Anspruchsvoll, weil avantgardistisch? Sicher. Aber eben doch anschaulich, weil spaßig, lustig, saukomisch, dargestellt mit großen Buchstaben als Spielsteinen.

"Da-da-is-mu-s": Jeroch kam vom Mu im Wort lautmalend auf die Kuh, pluralisierte Mus zur Muse, setzte ihr das vorgestellte Um keck mal hintendran, nannte dann das Museum ein "stilles Örtchen", weil man hier wie da sich zum Schweigen verpflichtet fühle. Was Jeroch anders sah: "Führt Kühe in die Museen!"

Der hagere Mann mit dichter Mähne, Dichtermähne eben, ließ Worte aus seinem Mund sprudeln und Bälle. Er demonstrierte so, wie Sprache spielerisch Spaß macht. Jeroch spuckte Silben, um zu zeigen: Babys erste Worte zeugen von Protest, Widerstand, Aufbegehren: "Pa! Pa!" Spie genau so wie "Pa!" die Tischtennisbälle hoch in die Luft, fing sie mit dem Mund, ließ die Luft aus den Wangen, als hätte er sie verschluckt, die Silben wie die Bälle.

Varieté also: Jonglieren mit Hüten, behütet sein Kopf, enthütet die Wortgeheimnisse. Ließ leuchtende Tennisbälle auf zwielichtiger Bühne im Takt zur Musik auf- und abspringen. Jonglierte mit hinterm Rücken verschränkten Armen, hockte auf der Stuhllehne, predigte über Pro-ligion, die "nach vorne gerichtet" sei - im Gegensatz zur "Re-ligion".

Beglückt und tief gebückt, nicht gebeugt, nahm Jeroch die stehenden Ovationen der über 200 Zuschauer entgegen. Er, der "Aufgeregte", hatte für einen aufregenden Auftakt der Literaturtage gesorgt.

(jobu)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort