Nettetal "Lasst uns zusammen friedlich leben"

Nettetal · Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth war zu Gast in der Alten Kirche in Lobberich. Dort sprach sie über die "Flüchtlingsfrage" und riet, nicht nur den Verstand zu bemühen, sondern auch das Herz sprechen zu lassen

 Beim Besuch in Lobberichs Alter Kirche sprach sich die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth für die Integration von Flüchtlingen aus.

Beim Besuch in Lobberichs Alter Kirche sprach sich die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth für die Integration von Flüchtlingen aus.

Foto: Busch

Den berühmten Merkel-Satz "Wir schaffen das" zum unerwartet großen Zustrom von Flüchtlingen im vergangenen Herbst unterstreicht auch Rita Süßmuth, doch wandelt die frühere Bundestagspräsidentin ihn etwas ab: "Wir können das." Damit greift der prominente Gast in der Alten Kirche in Lobberich über die bloße organisatorische Herausforderung hinaus und bezieht auch die Menschen an der Basis ein, von denen sie auch ein wenig Umdenken verlangt. Als Christen müsste ihnen das nicht schwerfallen: "Das Anderssein der anderen sollte uns nicht fernhalten, sondern neugierig machen." Die Menschen sollten darauf schauen, "was wir gemeinsam haben", so dass die Schlussfolgerung nur lauten könne: "Lasst uns zusammen friedlich leben."

Seit gut 20 Jahren befasst sich Süßmuth mit Migration und Integration und forderte schon 1994 ein Einwanderungsgesetz, womit sie sich erneut den Unmut der CDU einhandelte, die wohl Anfang der 1980er Jahre geglaubt habe, "dass ich ein braves Mädchen bin", sagt Süßmuth. So hat der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die Familien- und Frauenministerin 1988 auch ins Bundestagspräsidium befördert und mit ansehen müssen, wie sie 2001 von der rot-grünen Regierung zur Vorsitzenden einer Zuwanderungskommission berufen wurde.

Dass deren Empfehlungen erst 15 Jahre später in einem SPD-Gesetzesentwurf zur Einwanderung Berücksichtigung finden, betrachtet sie mit gewisser Genugtuung, aber auch Enttäuschung, weil es so lange dauerte. Dabei verhehlt sie nicht: Ein Einwanderungsgesetz löst nur teilweise das Flüchtlingsproblem, für das in erster Linie das Asylgesuch maßgebend ist.

Weltweit sind 66 Millionen Menschen auf der Flucht, knapp 900.000 haben 2015 Deutschland erreicht, weit weniger als die Syrer, die in der Türkei oder in Jordanien ein karges Leben fristen müssen.

In Lobberich leben derzeit 453 Flüchtlinge, 123 sind davon bereits anerkannt (Stand 31. Oktober). Deshalb warb Süßmuth in der Alten Kirche vor gut 100 Zuhörern um Verständnis für den Wunsch der Menschen, in sicherer Umgebung leben zu wollen. Und sie erinnerte an das Verhalten jüdischer Familien, die ihre Kinder während der Nazi-Herrschaft in Deutschland nach Holland, England oder in die USA schickten, damit sie wenigstens überlebten. Beispiele aus Lobberich: Edith Zanders (gestorben 2011 in Buenos Aires) und Walter Sanders (gestorben 2001 in Lobberich).

"Gemeinsame Projekte" zwischen Flüchtlingen und Einheimischen empfahl Süßmuth zum gegenseitigen Kennenlernen. Damit spricht sie auch Beate Engelke aus dem Herzen. Die Vorsitzende der Nettetaler Flüchtlingshilfe betont, "dass die meisten Asylsuchenden arbeits- und lernwillig sind. Sie wollen sich integrieren und ihren Beitrag leisten." Allerding kritisierte Engelke, dass dieser Wunsch nicht immer so schnell umsetzbar sei. Oftmals warte man monatelang auf die Bescheinigung, dass sie anerkannt sind, bevor die Flüchtlinge etwa einen Integrations- oder Sprachkurs besuchen dürften, erläuterte die Ehrenamtlerin. "Die Wartezeiten sind leider sehr hoch." Dennoch freut sich Engelke über die Bereitschaft der Asylsuchenden. "Einige von ihnen engagieren sich bereits ehrenamtlich etwa im Curanum und in der Kleiderkammer."

Genau diese Bereitschaft und das Eingliedern in die Gesellschaft ist auch laut Süßmuth so wichtig. Entscheidend für das allgemeine Zusammenleben sei das Leben in lokalen Gemeinschaften. Auf die Frage eines Zuhörers, was sie machen würde, wenn Afrika vor der Türe stünde, hatte die Migrationsspezialistin jedoch auch kein Patentrezept. Sie setze auf eine veränderte Politik der Entwicklungshilfe, die nicht Hightech in die Dörfer bringt, sondern brauchbare Geräte für den Ackerbau zur Selbsternährung: "Wir müssen sie anleiten, dass sie daheim bleiben", sagte Süßmuth und erinnerte an deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg: "Ein Marshall-Plan für Afrika fehlt."

Süßmuth begegnete der Forderung, dass Flüchtlinge "unsere Werte" anerkennen müssten, mit der Frage, welche Werte alle Menschen gemeinsam hätten, etwa das Schaukeln des Babys in der Wiege. Gewiss müsse der Verstand den Zustrom von Flüchtlingen regeln, doch ohne Gefühl gehe es auch nicht, "sonst sind wir unmenschlich", sagte sie.

(mme)
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