Nettetal Stolperstein für Anne Franks Großtante

Nettetal · "Das Tagebuch der Anne Frank" hat die Grausamkeit des NS-Regimes so deutlich gemacht wie kaum ein anderes Buch. Auch ihre Großtante Henriette Defries aus Kaldenkirchen wurde im KZ ermordet. Seit gestern erinnern "Stolpersteine" an ihr Leben — und an das ihres Mannes Simon.

 Seit gestern erinnern zwei Stolpersteine in Kaldenkirchen an Simon und Henriette Defries. Sie war eine Großtante von Anne Frank. Schüler der Gesamtschule legten zwei langstielige Rosen nieder und entzündeten zwei Kerzen.

Seit gestern erinnern zwei Stolpersteine in Kaldenkirchen an Simon und Henriette Defries. Sie war eine Großtante von Anne Frank. Schüler der Gesamtschule legten zwei langstielige Rosen nieder und entzündeten zwei Kerzen.

Foto: Busch

Es ist ein frostiger Morgen. In der tief stehenden Sonne werfen die Menschen lange Schatten am Haus Bahnhofstraße 76 in Kaldenkirchen. Ein Mitarbeiter des städtischen Bauhofs versucht vergeblich, mit einer langen Brechstange einen Stein aus dem Klinkerpflaster herauszuhebeln. Der Frost und der Verbund der Steine verhindern das. Der Klinkerstein bleibt wie unlösbar festgewachsen im Boden.

 Künstler Gunter Demnig (links) bei der Verlegung der Stolpersteine.

Künstler Gunter Demnig (links) bei der Verlegung der Stolpersteine.

Foto: Franz Heinrich Busch (bsen)

Gunter Demnig schaut eine Weile zu. Dann geht er kurz zu seinem Wagen und kommt mit einer Flex zurück. Sorgsam schneidet er damit in die Fugen, der Stein gibt seinen Widerstand auf und lässt sich nun herauslösen. Der Kölner Künstler ist bereits zum vierten Mal in Kaldenkirchen, um hier Stolpersteine an Häusern zu verlegen, in denen jüdische Bürger lebten.

 Johanna Schurz (in der grauen Jacke) spielt auf der Querflöte "Lechol isch jesch schem" - eine Melodie zum Gedicht "Jeder Mensch hat einen Namen".

Johanna Schurz (in der grauen Jacke) spielt auf der Querflöte "Lechol isch jesch schem" - eine Melodie zum Gedicht "Jeder Mensch hat einen Namen".

Foto: Franz Heinrich Busch (bsen)

Andreas Grefen, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde, begrüßt die Umstehenden. Julietta Breuer, Lehrerin an der Gesamtschule, ist mit einer Schülergruppe gekommen, die sich mit den Biografien jener Juden befasst haben, an deren Leben und Leidensweg im Nationalsozialismus die Stolpersteine erinnern werden. Während Grefen Umstehende begrüßt, kniet Demnig bereits am Boden und passt routiniert die beiden Steine mit den Namen und Lebensdaten von Simon und Henriette Defries dort ein, wo eben noch der Klinkerstein saß. Mehr als 55.000 Steine hat der 68-Jährige in Deutschland und in ganze Europa mittlerweile verlegt.

Die eisige Kälte kriecht an den Menschen hoch, die Grefen zuhören. Unter ihnen ist Edith Bader-Devries, die im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf lebt. Henriette Defries (sie wird auch "Devries" geschrieben), geborene Holländer, war ihre Großtante. Julietta Breuer hat die alte Dame, die sehr aufmerksam und gerührt der Gedenkveranstaltung folgt, am Morgen abgeholt. Ihr seien Schauer über den Rücken gelaufen, als sie sah, dass selbst ein jüdisches Altersheim heute noch von Polizei bewacht wird, sagte sie leise.

Johanna Schurz spielt "Lechol isch jesch schem" - eine Melodie zum Gedicht "Jeder Mensch hat einen Namen" von Zelda Schneurson Mishkovsky. Die Gesamtschülerin aus der siebten Klasse setzt die Querflöte ab. Nun tragen Gesamtschüler der Jahrgangsstufe 13 das Gedicht vor. Jeder Mensch hat einen Namen. Die Stolpersteine sollen den Menschen, die Opfer der Schoah wurden, ihren Namen und ihre Identität wiedergeben. Ein Schüler berichtet über Henriette Defries, sie sei vom Amtsgericht Lobberich 1951 für tot erklärt worden. Immerhin hat man vorher den von den Nazis für Jüdinnen erzwungenen Zusatz "Sarah" offiziell aus ihren Papieren getilgt.

Henriette Defries stammte aus Eschweiler, ihr Mann Simon wurde 1855 in Kaldenkirchen geboren. Die beiden heirateten in Aachen und lebten anschließend in Kaldenkirchen. Er war Metzger, wie sein Vater Abraham auch. Das Haus an der Bahnhofstraße erhielt 1905 den Stierkopf. Darin befand sich bis 1872, dem Bau der am 10. November 1939 zerstörten Synagoge, ein Gebetsraum der damals noch recht kleinen jüdischen Gemeinschaft. Simon starb im Januar 1939 an den Folgen von Verletzungen, die er am Tag des Pogroms in Kaldenkirchen erlitten hatte. Seine Frau, eine Großtante von Anne Frank, flüchtete in die Niederlande, wurde dort aber im Lager Westerbork interniert und 1943 in Auschwitz ermordet.

Boris Gerskovic und Efim Kosjanski von der jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach begleiten die Gedenkfeier, an der außer den Schülern etwa 30 Kaldenkirchener teilnehmen. In Vertretung von Bürgermeister Christian Wagner ist Harald Post gekommen, dazu die Ratsmitglieder Renate Dyck, Hajo Siemes und Vera Gäbler. Gerskovic spricht das jüdische Totengebet "El male rachim" (Gott voller Erbarmen), das an die mehr als sechs Millionen Juden erinnert, die Opfer der Shoah wurden, "ermordet, geschlachtet, verbrannt, umgekommen in Heiligung Deines Namens".

Niemand in der Kaldenkirchener Bevölkerung hat sich am 10. November 1938 dagegen gewehrt, dass die Synagoge zum Einsturz gebracht wurde - Feuer wurde wegen der engen Bebauung nicht gelegt. Die Thora mussten die Juden zuvor im Bürgermeisteramt abgeben. Junge Männer seien festgenommen und nach Dachau in das Konzentrationslager gebracht worden, sagt Andreas Grefen. Angst vor der rücksichtslosen Macht der Nationalsozialisten und Gleichgültigkeit seien die Ursachen dieser Lähmung gewesen. Auch die Kirchen hätten damals geschwiegen, sagt der Pfarrer. Nur sehr wenige hätten den Mut gehabt, sich kritisch zu äußern.

Ehe die Gruppe weiter zur Fährstraße, zur Steyler Straße und später ins Gemeindehaus geht, legen Schüler zwei langstielige Rosen an den Stolpersteinen nieder und entzünden zwei Kerzen.

(RP)
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