Nettetal Tiefe Narben in der Seele

Nettetal · Hermann Süssenbecker hat vor 70 Jahren Flucht und Vertreibung erlebt. Jetzt schrieb der 82-Jährige ein Buch über das Erlebte

Seinen Lebensabend genießt Hermann Süssenbecker mitten im Ort. Vor einigen Monaten ist er vom Heidenfeld an die Markstraße gezogen. Von seiner Wohnung aus kann er das alte Rathaus, den Turm der Alten Kirche und die Türme der katholischen Pfarrkirche St. Sebastian sehen. Nur der Turm der evangelischen Kirche ist verdeckt. Dort war er viele Jahre Küster und Jugendleiter, ehe er neue berufliche Aufgaben fand.

Den Ruhestand hat Süssenbecker genutzt, um den Weg des Schlesiers an den Niederrhein aufzuschreiben und in seinem Buch "Geh mit ein Stück meines Lebensweges" festgehalten.

Mitte 1933 in Breslau geboren, wuchs Süssenbecker nordöstlich von Breslau auf dem elterlichen Bauernhof in Burgweide (bis 1937: Schottwitz) auf. "Ich hatte eine sehr schöne Kindheit bis 1944", schildert der heute 82-Jährige und ergänzt: Ich erinnere mich an unseren Hund "Prinz", das Schaf "Wolle" und das Pferd "Lotte". Mit Schulkameraden ging es oft in den nahen Wald. "Der Unfug machte uns Kindern immer wieder Freude", sagt Süssenbecker. Dass er bei den Pimpfen der Hitlerjugend mitmachte, nahmen seine "königstreuen" Eltern zähneknirschend hin. Ende 1943 überflogen die ersten ausländischen Flugzeuge Breslau, auf dem Hof arbeitete der Franzose Eugene zwangsweise.

In großer Ausführlichkeit beschreibt Süssenbecker den zunächst noch idyllischen Verlauf des Jahres 1944. Gegen Ende des Jahres beginnt es kritisch zu werden, da die Ostfront immer näher rückt. "Der große Wagen war in der Scheune abgestellt und wurde bald beladen", berichtet der Lobbericher. Am 23. Januar 1945 begann die Flucht vor herannahenden russischen Truppen. Sie führte im tiefen Winter fast bis zur tschechischen Grenze.

Waren Hunger und Kälte noch zu ertragen, so prägten sich Bilder von sterbenden und erschossenen Menschen tief ein: "Was ich als Kind mitgemacht habe und mit ansehen musste, ist nicht zu beschreiben. Es war furchtbar, grausam und es gab keine Achtung vor den Mitmenschen. Für mich war das die wahrhaftige Hölle." Anfang März wird der Treck in Göllenau (Kreis Friedland) von der Roten Armee eingeholt: "Eine grauenvolle Zeit begann. Die Russen haben sich so unmenschlich benommen. Wir waren ihnen ausgeliefert."

Anfang Mai 1945 müssen die Burgweider zurück in ihre Heimat: "Die Rückreise war ein Gang durch die Hölle. Zerschossene Ortschaften. Ausgebrannte Häuser. Überall lagen Tote. Das Elend war furchtbar, und ich kann es bis heute nicht vergessen."

Der heimische Hof war geplündert. Die nächsten Monate hat Süssenbecker als eine grauenvolle Zeit in Erinnerung. Am 10. Juli ging es westwärts: "Wir wurden wie Vieh aus dem Ort getrieben", erinnert er sich. In Breslau wartete ein Zug mit Waggons, dessen Türen sich erst wieder hinter der Zonengrenze öffneten. Am 20. Juli kam er mit seiner Familie in Lobberich an. "Alles war uns fremd", sagt der 82-Jährige. Auf dem Rollwagen des Spediteurs Feickes ging die Fahrt zum Kindergarten auf dem Stöppken (heute Von-Bocholtz-Straße).

Es begann ein zunächst sehr bescheidenes Leben mit mancherlei Gehässigkeiten einiger Lobbericher. Aber: "Wir durften wieder ohne Angst unsere Muttersprache sprechen. Doch für das Verlassen der Heimat wurde ein sehr hoher Preis gezahlt - getränkt mit Angst, Pein, Hunger und Blut". Aber er schreibt auch: "Niemand ruft nach Rache und Vergeltung. Aber nur die Wahrheit führt in eine bessere Zukunft. Wer überwinden will, was geschehen ist, muss die ganze Wahrheit offenbaren."

(mme)
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