Serie Mit Dem Jugendamt Von Fall Zu Fall Aus der Familie in die Jugend-WG

Neuss · Der 16-jährige Jan* aus Neuss weigerte sich, zur Schule zu gehen und sprach nicht mehr mit seiner Mutter. Seit eineinhalb Jahren wohnt er in einer Wohngemeinschaft, wird von Sozialarbeitern betreut - und macht bald seinen Schulabschluss.

 Sozialarbeiter Rüdiger Müller und Jana Güth im Gespräch mit Jan (Name von der Redaktion geändert) in der Jugendwohngruppe AZEH in Mönchengladbach.

Sozialarbeiter Rüdiger Müller und Jana Güth im Gespräch mit Jan (Name von der Redaktion geändert) in der Jugendwohngruppe AZEH in Mönchengladbach.

Foto: Bärbel Broer

Neuss Die Akte, die Jugendamtsmitarbeiterin Sonja Olechnowitz nach Mönchengladbach mitbringt, ist dick. Seit Jahren betreut sie schon den mittlerweile 16 Jahre alten Jan Thoben*, der es bei seiner Familie in Neuss nicht mehr aushielt und seit Dezember 2014 in der Jugendwohngemeinschaft AZEH e.V. lebt. Nach einem Vierteljahr trifft sie sich mit Jan, seiner Mutter Anja* sowie den Sozialarbeitern Rüdiger Müller und Jana Güth zum vorgeschriebenen Hilfeplangespräch. Es geht vor allem darum, welche Ziele bislang erreicht wurden. Und welche künftig angestrebt werden sollen.

Jan scheint sein neues Zuhause, das er sich mit neun anderen Mädchen und Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren teilt, gut zu bekommen. Regelmäßig geht er wieder zur Schule, seine Noten in der neunten Klasse sind derzeit sogar so gut, dass er voraussichtlich an der Hauptschule auch seinen Realschulabschluss machen könnte. Auch Freunde habe er in der WG gefunden, erzählt Jan.

Das sah vor mehr als einem halben Jahr noch ganz anders aus. "Er war zwar 24 Stunden am Tag zuhause, aber nicht anwesend", klagt seine Mutter. "Er ging nicht zur Schule, half nicht im Haushalt und war aggressiv gegenüber seinen Geschwistern." Anja Thoben ist alleinerziehende Mutter von sechs Kindern, lebt von Hartz IV. Die Kinder haben drei verschiedene Väter. Drei Kinder sind bereits volljährig und ausgezogen. Jan, seine 13-jährige Schwester sowie sein zehn Jahre alter Bruder lebten bis vor kurzem gemeinsam in Neuss.

Ein Zusammenleben sei dies aber nicht gewesen, so die Mutter. "Ich habe ihn nicht aus dem Bett bekommen. Gesprochen hat er nicht mit mir. Das war Stress pur für mich." Zudem machte die Schule Druck, weil Jan seit Wochen nicht mehr erschienen war. Auch andere Termine wie jene beim Kinderpsychologen schwänzte er.

Dabei hatte es schon vergleichbare Situationen gegeben. "Bereits von September 2011 bis Juli 2013 lebte er in einer Fünf-Tages-Gruppe", sagt Sonja Olechnowitz. Nur am Wochenende kam er nach Hause. In dieser Zeit sei Jan regelmäßig zur Schule gegangen und habe sich an die Regeln der Wohngruppe gehalten. "Ein gutes Jahr, nachdem Jan entlassen worden war, war Ruhe", so Olechnowitz. "Doch dann ging es wieder los." Auch der Kinderpsychologe, bei dem Jan seit Jahren behandelt wird, habe sie informiert. "Er war in großer Sorge, berichtete, dass der Junge nicht mehr zu den Terminen käme und sagte, dass es ein Fehler gewesen sei, ihn wieder nach Hause zu entlassen." Nach dieser Einschätzung sowie Gesprächen mit Mutter und Sohn fand das Jugendamt Neuss ein neues Zuhause für Jan.

Was dem Jungen eigentlich fehlt, darüber sind sich auch die Experten offenbar nicht ganz einig. "Ein Psychologe hat Hyperaktivität diagnostiziert und er bekam Ritalin. Dadurch wurde er aber immer apathischer und dann haben wir das Medikament nach drei Jahren abgesetzt", so die Mutter. Als gesichert gilt: Jan ist depressiv, hat extreme Schlafprobleme und kennt kein Kälte-Wärme-Empfinden. Zudem ist er hochintelligent, ein IQ-Test hat dies belegt. "Meine soziale Integration sei noch nicht gut, hat man mir gesagt", gibt Jan zu. "Ich kann aber mit niemandem über alles reden. Ich vertraue niemand." Sobald er nach den Gründen gefragt wird, hört seine Redseligkeit auf. Der 16-Jährige, der bedeutend jünger wirkt, verschließt sich wieder. Sozialarbeiter Rüdiger Müller lässt nicht locker, will wissen: "Wer hat Dein Vertrauen verdient?" Jan reagiert nur mit Achselzucken. "Als Bezugsbetreuer wünsche ich mir, dass er uns mehr vertrauen würde", sagt Müller. Auch dies notiert Olechnowitz in ihrer Akte. Hakt aber ebenso das wichtigste, bislang erreichte Ziel ab: Regelmäßige Schulbesuche. Als neues Ziel vereinbaren alle gemeinsam: Noten halten, um den Realschulabschluss zu erreichen, und Putzdienste regelmäßig mitmachen.

*NAMEN GEÄNDERT

(NGZ)
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