Neuss Das internationale Klassenzimmer

Neuss · Flüchtlinge und Kinder von Einwanderern, die neu in Deutschland sind, werden in der Schule in so genannten Seiteneinsteigerklassen unterrichtet - zum Beispiel an der Janusz-Korczak-Gesamtschule. Ein Besuch.

Neuss: Das internationale Klassenzimmer
Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Vier Gruppentische stehen im internationalen Klassenzimmer der Janusz-Korczak-Gesamtschule. Ein jeder steht für ein Sprachniveau: Anfänger völlig ohne Deutschkenntnisse, Anfänger mit ein paar Vokabelkenntnissen, Fortgeschrittene, bereit für die Regelklasse. Das System, nach dem die Seiteneinsteigerklasse für Flüchtlinge und Migrantenkinder funktioniert, ist leicht zu überblicken. Der Unterricht dagegen ist für Klassenlehrerin Gabriele Sieg und ihre Kollegen jeden Tag eine neue Herausforderung. "An dem Tisch vorne links zum Beispiel sitzen Kinder, die erst Anfang der Woche gekommen sind. Bei ihnen starten wir bei Null", sagt Sieg. Andere Kinder könnten schon längst alleine arbeiten. Sie alle gilt es, in den vier Schulstunden pro Tag gleichzeitig zu unterrichten und damit für die Schule in Deutschland fit zu machen. Eine Mammutaufgabe, vor allem mit Blick auf den immer größer werdenden Zustrom von Flüchtlingen. Aber auch eine Aufgabe, die Sieg bei jeder noch so kleinen Erfolgsgeschichte stolz macht.

Ahmad, Panos und Giorgos sind solche Erfolgsgeschichten. Im Sommer haben sie die Seiteneinsteigerklasse verlassen und besuchen jetzt die zehnte Klasse der Gesamtschule. Zwei Jahre lang wurden sie zuvor von Gabriele Sieg unterrichtet, sie sind damit sozusagen der erste Jahrgang, der die Seiteneinsteigerklasse an der Schule erfolgreich abgeschlossen hat. Denn nach dem Prinzip dieser Klasse werden die Schüler zwei Jahre lang gefördert, lernen Deutsch und werden dann sukzessive in den Unterricht der Regelklassen eingegliedert. Ahmad, Panos und Giorgos blicken zufrieden auf ihre Zeit als Seiteneinsteiger zurück: "Am Anfang habe ich kein Wort Deutsch verstanden. Jetzt gibt es kaum etwas, das ich nicht verstehe", sagt Ahmad. Der 16-Jährige kam vor ein paar Jahren mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland. Nach der ersten Zeit im Flüchtlingsheim leben seine Eltern, seine Schwestern und er nun in einer eigenen Wohnung und haben ein neues Leben begonnen. "Mit meinen Schwestern rede ich zu Hause jetzt Deutsch. Sie sind jünger als ich und haben die Sprache deshalb ein bisschen schneller gelernt", sagt er stolz. Seine Eltern könnten noch nicht so gut sprechen, würden aber alles verstehen. Die Schule eröffne ihm Perspektiven. Die hätte er in Syrien nicht gehabt, ist Ahmad sicher.

Panos und Giorgos sind aus Griechenland mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und erinnern sich noch gut an die Anfangszeit in der Seiteneinsteigerklasse. "Einmal bin ich zu spät gekommen, und Frau Sieg hat etwas auf Deutsch zu mir gesagt. Ich habe es nicht verstanden und Giorgos gefragt, was sie gesagt hat. Er hatte auch keine Ahnung. Da haben wir gelacht. Weil wir alle kein Deutsch konnten, haben wir uns untereinander so gut verstanden", sagt Panos und beschreibt damit genau die Strategie von Gabriele Sieg: Selbst die Kinder aus Syrien, die erst Anfang der Woche zu ihr in die Klasse gekommen sind, spricht sie konsequent auf Deutsch an - unterstützt durch Mimik und Gestik. "Es bringt nichts, wenn ich mit den Schülern besonders langsam oder besonders einfach spreche", sagt die Lehrerin, die bereits lange Zeit Deutsch als Fremdsprache unterrichtet hat. "Und Internationalismen helfen. Also Wörter wie Video oder Football. Das versteht jeder."

Doch mit ihrer neuen Seiteneinsteigerklasse hat sich ihr Vorgehen trotzdem verändert: Hat sie die erste Klasse noch im Verbund in die Regelklasse geführt, ist dies nicht mehr möglich. Ständig kommen neue Kinder in die Klasse, vor allem Flüchtlinge aus Syrien, mit neuen Bedürfnissen und anderen Wissensständen. Da hilft nur, die Kinder auf die verschiedenen Gruppentische aufzuteilen und von Tisch zu Tisch zu gehen, um sie zu betreuen. Hilfe bekommt Sieg dabei von zwei neu eingestellten Lehrern, die ein paar Stunden in der Woche im Unterricht mithelfen. Weil jetzt erstmals 17 Schüler in der Klasse unterrichtet werden, sind die Seiteneinsteiger zudem in ein größeres Klassenzimmer umgezogen. Ihren Enthusiasmus verliert die Lehrerin mit den wachsenden Herausforderungen aber nicht: "Ich muss mit den Kindern nicht wie in der Regelklasse bestimmte Ziele erreichen und den Unterrichtsstoff zwingend bis zum Schuljahresende durchgenommen haben", sagt sie. Es gehe nur ums Lernen. "Vergangene Woche ist ein Junge aus Aleppo in unsere Klasse gekommen. Er kann weder lesen noch schreiben. Früher wäre ich deshalb in Panik geraten, nun denke ich mir einfach, dass ich ihm das eben beibringen werde."

Dass sie an ihrer Schule die Möglichkeit dazu hat, darauf ist Gabriele Sieg stolz. Schließlich war die Janusz-Korczak-Gesamtschule mit der Eröffnung ihrer Seiteneinsteigerklasse vor zwei Jahren eine der ersten Schulen in Neuss überhaupt, die sich entschieden hat, Flüchtlinge und Migrantenkinder zu beschulen. Am Quirinus-Gymnasium werden sogar seit 1996 Schüler mit ausländischen Wurzeln gezielt gefördert.

Inzwischen gibt es in Neuss laut Karin Roth-Junkermann vom Kreisschulamt zehn Seiteneinsteigerklassen an weiterführenden Schulen und Berufskollegs, in denen derzeit rund 130 Schüler unterrichtet werden. "Und in den Grundschulen sind es noch mehr: Dort werden alle Kinder gemeinsam unterrichtet. Seit Beginn des Schuljahres sind in Neuss schon mehr als 100 neue Schüler aus dem Ausland dazugekommen", so Roth-Junkermann. Um ihnen allen gerecht zu werden, wurden neue Stellen geschaffen für Lehrer wie Gabriele Sieg, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten können. Und der Bedarf wächst. "In Neuss sehe ich aber derzeit keine Probleme, noch mehr Schüler unterzubringen. Kein Kind steht auf der Warteliste, und wir setzen alles daran, dass das auch so bleibt", so Roth-Junkermann.

Und vielleicht enden ja dann weitere Schüler wie Ahmad bei Gabriele Sieg und erhalten eine Zukunftsperspektive. Ahmad ist sicher: "Syrien ist zwar unser Zuhause. Aber dorthin können wir jetzt nicht mehr zurück. Wir müssen hier weitermachen."

LAURA IHME

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort