Serie Kriegsende und Neuanfang Das "Wirtschaftswunder"

Rhein-Kreis Neuss · 1945 lag auch die Industrie in der Region in Schutt und Asche. In einem Kraftakt wurden in der Nachkriegszeit im Neusser Hafen, bei Bayer Dormagen und anderswo die Trümmer beseitigt - und so die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg geschaffen.

 Das Bayerwerk Dormagen gehörte bereits vor und während dem Zweiten Weltkrieg zu den industriellen Zentren der Region.

Das Bayerwerk Dormagen gehörte bereits vor und während dem Zweiten Weltkrieg zu den industriellen Zentren der Region.

Foto: Bayer

Der erste Eindruck war verheerend. Gerade einmal zwei Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem Johannes Diekers zum letzten Mal das Gelände des Neusser Hafens betreten hatte. Damals, im Jahr 1943, war Diekers noch Handelslehrling gewesen. Und aus den Schiffen, die im Hafen lagen, hatten Arbeiter täglich tausende Tonnen an Waren gelöscht.

Doch davon konnte nun, am 5. Dezember 1945, keine Rede mehr sein. Als Johannes Diekers, der später zum Hafenbetriebsdirektor aufstieg, an diesem Tag und nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft wieder im Hafen zu arbeiten begann, glichen die großen Becken mit ihren Kränen, Lagerhäusern und den Industriebetrieben in direkter Nachbarschaft einer einzigen Trümmerwüste.

"Die Zerstörungen waren sehr groß", erinnert sich der inzwischen 89-jährige Diekers bis heute. Nach etlichen Luftangriffen der Alliierten besaßen sämtliche städtische Krananlagen nur noch Schrottwert. 50 Prozent der Lagerhäuser galten als Totalschäden. Bis zu 70 Prozent der Werksanlagen des Landmaschinenherstellers Internationale Harvester Company (IHC) an der Hafenmole I waren zerstört. Die elektrischen Anlagen, die ebenfalls schwer beschädigt waren, konnten nur eingeschränkt genutzt werden. Überall war mit Blindgängern zu rechnen, von denen Lebensgefahr ausging. Und im Hafen selbst lagen 25 gesunkene Schiffe, die die drei Hafenbecken, den Erftkanal sowie den Floßhafen blockierten.

Die Lage erschien also hoffnungslos - zumal angesichts der augenscheinlichen Zerstörungen kaum Aussicht auf eine rasche Erholung bestand. Und wohl auch deshalb wirkt der schnelle Wiederaufbau, der alsbald einsetzte und sich später zu einem regelrechten Boom entwickelte, auf viele noch immer wie das längst sprichwörtlich gewordene "Wirtschaftswunder".

Aber ist die Entwicklung damit wirklich zutreffend beschrieben? Oder verhielt es sich doch vielmehr so, dass abseits aller sichtbarer Zerstörungen in der Region wie anderswo eine wirtschaftliche Basis den Krieg überstanden hatte, die nun, nach 1945, erst den raschen Wiederaufbau ermöglichte?

In der Tat begann die Rekonstruktion in den industriellen Zentren auch auf dem Gebiet des heutigen Rhein-Kreises sehr schnell. So wurde im Neusser Hafen bereits 1949 wieder über eine halbe Million Tonnen an Waren umgeschlagen, nachdem der Handel 1945 fast vollständig zum Erliegen gekommen war.

Vergleichbares galt auch für das Dormagener Bayerwerk, wo die Produktion ebenfalls zügig wieder hochgefahren wurde. Erst Ende Februar 1945 waren die Chemie-Anlagen angesichts der anrückenden Amerikaner geschlossen worden. Doch schon im darauffolgenden Jahr stellten die Bayer-Arbeiter wie früher Kunststoffe, Kupferkunstseide sowie Kunstwolle her.

Zwar handelte es sich dabei einstweilen um Mengen, die mitnichten an die Vorkriegsproduktion heranreichten. Trotzdem, ein Anfang war gemacht - zumal sich die Zerstörungen in Dormagen schon bald als weniger schlimm erwiesen, als im ersten Augenblick befürchtet worden war. "Die während des Krieges entstandenen Bombenschäden waren verhältnismäßig gering", heißt es etwa in einem internen Bayer-Bericht aus jener Zeit.

Gleichwohl waren die Beschäftigten des Chemiewerks, das bis dato zum alten I.G.-Farben-Konzern gehört hatte und erst 1951 zur neu gegründeten Bayer AG kam, in der unmittelbaren Nachkriegszeit vielfach dazu gezwungen, ein wahres Improvisationstalent zu entwickeln. Denn nur so war es ihnen möglich, die Produktion wieder in Gang zu setzen.

Ähnlich erging es den Arbeitern und Angestellten im Neusser Hafen. Dort galt es unter der Leitung des neuen Hafendirektors Heinrich Königshofen ebenfalls, zunächst - wie überall in der Stadt - die größten Schäden zu beseitigen. So war es vordringlich, den Hafen so schnell wie möglich wieder schiffbar zu machen. Eine Neusser Spezialfirma beseitigte darum mit Tauchern Bomben und Waffen aus den Becken und hob überdies die während des Weltkrieges gesunkenen Kähne.

Eine Wiederinbetriebnahme des Hafens war aber auch dann noch nicht möglich. Denn die Infrastruktur lag einstweilen weiter in Trümmern. "Die Schlosser haben aus diesem Grund beispielsweise Ersatzteile bei Schrotthändlern besorgt, mit denen die Kräne nach und nach instandgesetzt wurden", sagt Johannes Diekers, der selbst damals eine Art Handlungsreisender in Sachen Hafen war. Diekers: "Ich bin oft zur britischen Wasserstraßenverwaltung nach Duisburg gefahren, von der wir Geld für den Wiederaufbau bekamen."

Aber damit allein war es noch nicht getan. Denn so zerstört der Neusser Hafen 1945 auch wirken mochte - in ihm lagerten bei Kriegsende doch Werte, mit denen weiterhin etwas anzufangen war. So hatten die Nazis bei ihrer Flucht aus der Stadt im Frühjahr 1945 zum Beispiel Lokomotiven sowie andere Maschinen zurückgelassen, die nun für einen wirtschaftlichen Neuanfang genutzt werden konnten. Und überdies waren in den Silos der Neusser Lebensmittelindustrie Nahrungsmittel erhalten geblieben, die zumindest in der ersten Nachkriegszeit ein Überleben der Bevölkerung ermöglichten.

Werte, von denen auch die Alliierten wussten, die den Hafen darum zunächst zu einer Art "verbotenen Stadt" mitten in Neuss machten. Direkt nach der Befreiung im Frühjahr 1945 erließ die US-Militärregierung ein absolutes Zutritts-Verbot für das Hafengelände, das streng kontrolliert und erst im Spätsommer 1945 wieder aufgehoben wurde, um den Wiederaufbau zu forcieren.

Tatsächlich erholte sich die Wirtschaft in der Region in den nun folgenden Jahren, vor allem aber in der Zeit nach der Währungsreform vom Sommer 1948, zusehends. Ende der 40er-Jahre arbeiteten im Neusser Hafen und bei den Firmen in seiner Umgebung wie etwa der Nationalen Radiator Gesellschaft oder IHC bereits wieder 10 000 Arbeiter und Angestellte.

Im Jahr 1955 erreichte der Güterumschlag im Hafen schließlich das Vorkriegsniveau. Und bis Ende der 50er Jahre wurden die Hafenanlagen um ein fünftes Becken erweitert, so dass dort am Ende mehr Menschen als je zuvor ein Auskommen hatten.

Eine vergleichbare Entwicklung nahm auch Bayer in Dormagen. Bei Kriegsende verfügte das Werk über eine Stammbelegschaft von noch etwas mehr als 3000 Mitarbeitern, die in der zweiten Hälfte der 40er Jahre sukzessive ausgebaut wurde. "1951 lag die Belegschaftszahl bei über 4000", sagt ein Unternehmenssprecher, wobei in den Folgejahren weitere Arbeiter und Angestellte eingestellt wurden, um die stetig steigende Nachfrage nach Chemieprodukten aus Dormagen befriedigen zu können.

Um ein "Wirtschaftswunder" handelte es sich bei all dem allerdings nicht. "Es wurde damals viel gearbeitet", sagt zum Beispiel Hafenmitarbeiter Johannes Diekers noch in der Rückschau von mehreren Jahrzehnten.

Wie alle anderen Arbeitnehmer im Hafen hatte Diekers, der mit gerade einmal 27 Jahren zum Hafenbetriebsleiter ernannt wurde, zunächst eine Sechstage-Woche. "Wir haben 52 Stunden pro Woche und offiziell bis Samstagmittag gearbeitet", erinnert sich Diekers. Erst danach begann das Wochenende - wenn nicht gerade einmal wieder Überstunden anstanden.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort