Neuss Der "Polarexpress" bleibt drei Mal liegen

Neuss · Mitten im Wald zwischen Gerresheim und Mettmann streikt der Diesel. Schon wieder. Christoph Kleinau fuhr im Selbstversuch mit der Neusser Eisenbahn durch die Nacht - und wäre beinahe nie am Ziel angekommen.

Als die 1500 PS wie mit einem langen Seufzer verstummen, glimmt vom Armaturenbrett nur noch eine Anzeige unheilverkündend in die Finsternis im Führerstand von Lok 107 der Neusser Eisenbahn: "Motorschmieröldruck zu niedrig."

Spätestens jetzt scheint das Kalkwerk in Dornap, Michael Ungers Ziel auf dieser kaum 40 Kilometer langen Tour, weiter weg als der Nordpol - und Zug Nummer 95623 in dieser Winternacht einem Museumszug ähnlicher als dem "Polarexpress". "Das ist das Unberechenbare bei der Eisenbahn", sagt der Lokführer. "Wann Dienstbeginn ist, steht fest, das Ende ist immer offen." Ein Satz wie aus dem Drehbuch. Der Satz für diese Nacht.

Unger ist Eisenbahner aus Passion - und bei der Neusser Eisenbahn dank eines Zufalls. Auf einer Party lernte der gelernte Schlosser vor über 18 Jahren einen Neusser kennen, der um die Personalnot im damaligen Hafenamt der Stadt wusste und für den Essener einen Kontakt herstellen konnte.

Der wurde sofort eingestellt, denn das Lokführerpatent hatte Unger schon in seiner Freizeit beim Museumsbahn-Verein in Bochum-Dahlhausen erworben. Eine Dampflok führen wie in dem Film "Polarexpress"? "Dampf fahre ich nicht gerne", sagt der 43-Jährige, der zwar ein Faible für Eisenbahn-Nostalgie hat, im Job aber nüchtern denkt: "Ich liebe eher alles, was einen Motor hat." Besser zwei, möchte man hinzufügen, als sein Zug endgültig zum Stillstand kommt.

Als Michael Unger um 22 Uhr zum Dienst erscheint, sieht alles nach Routine aus. Viel wird von ihm nicht verlangt. 20 leere Kesselwaggons, die zu einem Zug von respektablen 305 Metern Länge und 459 Tonnen Gewicht zusammengestellt wurden, soll er zum Kalkwerk bringen. Ein Job für höchstens zwei Stunden - im Normalfall. Doch an den glaubt Ulrich Warschul schon nicht mehr, als er in der Fahrdienstleitung an der Heerdterbuschstraße den Lokführer in die Schicht einweist.

"Unfall mit Personenschaden in Mönchengladbach. Alle Güterzüge werden über Neuss umgeleitet", schildert er die Fakten. Unger macht sich ganz andere Sorgen: Hinter Gerresheim ist er auf der Strecke der Regiobahn unterwegs, die gerade zweigleisig ausgebaut wird. "Baustellenverkehr. Da weiß man nie, wie man durchkommt", sagt er.

Dornap ist eine Kurzstrecke für die Männer der Neusser Eisenbahn, die seit dem Zusammenschluss mit dem Hafen Köln vor zwei Jahren als "Rhein-Cargo" firmiert. Kalk fahren sie in die Kraftwerke im Braunkohlerevier, Erz nach Österreich oder Braunkohlestaub nach Thüringen. Handfeste Sachen - und das findet Unger gut so. "Was ich fahre, meckert nicht." Dafür nimmt er gelassen in Kauf, wenn man ihn stoppt, damit Reisezüge überholen können. Dafür akzeptiert er die Einsamkeit als ständigen Begleiter.

Als Unger aus dem Neusser Hafen auf das Streckennetz der Deutschen Bahn wechselt, gibt es nur noch den Funk und sein Handy. Im Film "Polarexpress" ist es ein Kunstgriff, dass Tom Hanks mehrere Rollen spielt, auf Zug 95623 ist es Notwendigkeit. Unger ist Lokführer, Funker, Rangierer - und im "unbemannten" Zielbahnhof "Dornap Hahnefurth", wo Weichen von Hand zu stellen sind, auch sein eigenes Stellwerk. Und weil das in dieser Nacht nicht reicht, ist er auch Maschinist und Notfallmanager, als kurz vor Erkrath der Diesel zum dritten Mal wiederbelebt werden muss. 80 Stundenkilometer könnte die Lok, doch Unger lässt es bei "expressmäßigen" 15.

Erst als er die Waggons abgekoppelt hat und allein mit der Lok den Heimatbahnhof ansteuert, traut er sich, wieder Gas zu geben. Da wird auch aus diesem "Film" einer über Glauben und Freundschaft. "Ich glaube, jetzt hält der Motor", sagt Unger, der schon den nächsten Einsatz vor Augen hat. Einen Freundschaftsdienst. Sein Kollege ist in Soest mit einem Schaden an seiner E-Lok liegen geblieben. Noch so ein Pechvogel - und den holt er jetzt.

(NGZ)
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