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Serie Kriegsende Und Neuanfang Im Rhein-Kreis Neuss (9) Die Generation der Kriegskinder

Rhein-Kreis Neuss · Wann genau die ersten Zweifel kamen, kann Werner Ortmann nicht mehr sagen. Bereits als ganz kleiner Junge hatte der inzwischen 80-Jährige den Horror des "Dritten Reichs" miterlebt. Er war Zeuge geworden, als die Nazis 1938 Synagogen in Brand steckten. Er hatte gesehen, wie Juden immer weiter entrechtet wurden. Später dann kamen die Bombennächte des Krieges, die unter der Zivilbevölkerung unendliches Leid auslösten. Ortmann selbst wurde als Kind von einer Luftmine verletzt. Aber über all dem stand einstweilen noch die Propaganda des NS-Regimes, die darauf angelegt war, schon in den Köpfen der Jüngsten unbändigen Hass zu säen.

Serie Kriegsende Und Neuanfang Im Rhein-Kreis Neuss (9): Die Generation der Kriegskinder
Foto: Raupold, Isabella (ikr)

"Ich erschrecke bis heute über unsere Verführbarkeit", sagt Werner Ortmann 70 Jahre später. Dabei könnte gerade er als Paradebeispiel dafür dienen, wie alte Feindbilder überwunden wurden. Als Erwachsener machte der gebürtige Düsseldorfer, der seit 1965 in Korschenbroich wohnt, bei einem französischen Mineralöl-Konzern Karriere. Und gemeinsam mit englischen Freunden engagierte er sich bereits in den 60er Jahren in der Friedensbewegung.

Doch trotz dieser späteren Erfahrungen hat Werner Ortmann nichts mehr geprägt als die lebenslange Freundschaft zu einem Mann, der in den Augen der Nationalsozialisten nur eines gewesen war - ein Feind.

Giuseppe Pigozzi war als junger Soldat noch zum Ende des Krieges in deutsche Gefangenschaft geraten. Mit anderen Zwangsarbeitern wurde der Mann aus Verona danach gezwungen, in einem Gussstahlwerk im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel zu schuften. Und genau dort kreuzten sich schließlich die Wege des Italieners Pigozzi und des Deutschen Ortmann.

Eigentlich waren Kontakte zu Gefangenen streng verboten. Doch gerade in den Monaten vor der vollkommenen militärischen wie moralischen Niederlage fiel es den Helfern des Regimes trotz ständig wachsenden Terrors zunehmend schwerer, die Bevölkerung zu kontrollieren. Ein Umstand, den sich vor allem die Kleinsten zunutze machten. "Wir haben den Gefangenen heimlich geholfen", erinnert sich Werner Ortmann, der damals in der Nähe des Lagers lebte, in dem Giuseppe Pigozzi interniert war.

Der junge Italiener revanchierte sich auf seine Art. Er brachte seinem neuen deutschen Freund - ebenfalls heimlich - Italienisch bei. Und hielt die Verbindung auch aufrecht, nachdem es ihm gelungen war, in den Wirren des Zusammenbruchs zu fliehen. "Wir haben uns in späteren Jahren oft gegenseitig besucht", sagt Werner Ortmann, der selbst nach dem Tod des Freundes vor einigen Jahren den Kontakt zu dessen Familie nicht abreißen ließ.

Dabei hat der Korschenbroicher die Schrecken der Nazi-Zeit niemals vergessen. Wie für zehntausende andere Kriegskinder in der Region blieb die Vergangenheit stets präsent - etwa im Fall von Irma Wittmann.

Die Neusserin erinnert sich bis heute an eine Tragödie, die sich noch in den letzten Kriegstagen abspielte. Zu einem Zeitpunkt, als die Amerikaner bereits in der Quirinusstadt standen, feuerten deutsche Truppen von der rechten Rheinseite Granaten auf Neuss - und töteten so vier spielende Kinder. "Ein elendes Verbrechen, das wütend und traurig macht", sagt Irma Wittmann, die 1945 gerade 15 Jahre alt war.

Ereignisse wie diese gruben sich tief im individuellen sowie kollektiven Gedächtnis der sogenannten Kriegskinder-Generation ein. Zumal es auch in den ersten Jahren nach der deutschen Kapitulation weiterhin nur ums nackte Überleben ging. "Die Hungererfahrungen von damals prägten die Menschen für ihr gesamtes Leben", urteilt dementsprechend der Neusser Stadtarchivar Jens Metzdorf.

Und auch als die größte Not schließlich überwunden war, blieb die Vergangenheit noch viele Jahre auf schmerzhafte Art lebendig. So etwa für Änne Geißler, die bei einem der letzten alliierten Angriffe auf Grimlinghausen ihren Vater verloren hatte. "Es dauerte lange, bis alles wieder einigermaßen in Ordnung war. Meine Arbeit hat mir geholfen", sagt die heute 87-Jährige, die damals zu den tausenden Halbwaisen oder Waisen im späteren Rhein-Kreis gehörte.

Ein Schicksal, das anderen Kindern und Jugendlichen erspart blieb. "Mein Vater kehrte zum Glück sehr schnell aus dem Krieg zurück", sagt etwa Dieter Steins. Tatsächlich schaffte es der Vater schon im Sommer, sich zu seiner Familie in Neuss durchzukämpfen. Doch bedeutete dies im Umkehrschluss keineswegs, dass es die Steins in der unmittelbaren Nachkriegszeit leicht gehabt hätten. Das Haus der Familie war schwer beschädigt. Und die Firma, die der Vater von Dieter Steins mit einem Partner betrieb, benötigte ebenfalls einige Jahre, ehe sie wieder florierte.

Gleichzeitig wurden in der ersten Zeit nach dem Krieg aber auch die Weichen für einen echten gesellschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Neuanfang gestellt. "Wir haben beim Einmarsch der Amerikaner zum ersten Mal dunkelhäutige Menschen gesehen", erinnert sich Heinz Günther Hüsch, der später als CDU-Abgeordneter für die Region im Bundestag saß. Wie viele andere Kriegskinder und -jugendliche machte der heute 85-Jährige damals eine einschneidende Erfahrung.

Denn die GIs verhielten sich ganz anders, als die NS-Propaganda nur Wochen zuvor noch verbreitet hatte. "Die Soldaten waren sehr nett", sagt zum Beispiel Christel Zelleröhr, die die Kaugummis und Schokolade der Amerikaner niemals vergessen hat. Das Eis zwischen Siegern und Besiegten begann zu brechen - und die Tür hin zu einer demokratischen Zukunft auch in der Region war einen Spalt geöffnet.

(NGZ)
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