Neuss Die unbekannte Ehrenamtlerin

Neuss · Die gut 60 ehrenamtlichen Mitarbeiter der Telefonseelsorge bleiben zum Schutz anonym wie die Anrufer. Eine Ehrung zum Tag des Ehrenamts.

 Eine Mitarbeiterin der Telefonseelsorge Neuss beim Dienst am Telefon. Sie sind immer erreichbar, und doch ebenso anonym wie die Anrufer.

Eine Mitarbeiterin der Telefonseelsorge Neuss beim Dienst am Telefon. Sie sind immer erreichbar, und doch ebenso anonym wie die Anrufer.

Foto: Woi

Der Raum, in dem Menschen ihre Selbstmordabsichten lassen können, ist hell und fröhlich. Sofa in Türkis, Zimmerpflanzen, viele Bilder an den Wänden mit Telefonen darauf, Laminat-Fußboden. Aber niemand darf dieses Zimmer sehen. Am Schreibtisch sitzt Marion*, beendet ihre Notizen und erhebt sich aus einem ziemlich teuren Bürostuhl. Feierabend nach vier Stunden Telefonseelsorge, zehn Scherzanrufern und zehn Anrufern mit wirklich ernsten Problemen, über deren Inhalte sie aber nicht sprechen darf. Genauso wenig wie über sich selbst. "Meine Anonymität ist ein Schutz für mich", sagt die 45-Jährige.

Seit acht Jahren ist die Neusserin ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Telefonseelsorge. Dreimal im Monat arbeitet sie vier Stunden in den Diensträumen in der Neusser Innenstadt. Sie spricht mit Anrufern, die von Suizidgedanken gepeinigt sind. Täter, die darüber sprechen wollen, dass sie einen Menschen sexuell missbrauchen. Die anonym drauflos pöbeln. Die eine Story erfinden und das lustig finden. Oder aber selbst gar nicht wissen, was sie eigentlich plagt. "Es gibt sicher schwierige Gespräche, aber auch erheiternde, schöne Wendungen, Punkte, an denen wir ins Lachen kommen. Es geht darum, die Ressourcen beim Anrufer zu stärken", sagt sie. An diesem Morgen hat sie mit einem Anrufer am Telefon herzhaft gelacht. Es muss nicht alles traurig sein. Ihre Chefin Barbara Keßler sagt über Marion, sie sei eine lebendige Mitarbeiterin, die sich etwas Kindlich-kreatives bewahrt hat, aber so viel Lebenserfahrung hat wie jemand im hohen Alter.

Nur: Kaum jemand weiß davon, was Marion tut, wenn sie früh am Morgen das Haus verlässt und mit dem Fahrrad in die City fährt. Ihrem Mann hat sie es natürlich gesagt, und nur die engsten Freunde wissen bescheid, die schon mal auf die Tochter aufpassen müssen. "Wir können unsere Mitarbeitenden nicht aufs Treppchen stellen und einen Orden überreichen. Dieses Ehrenamt ist völlig ohne öffentliche Würdigung", sagt Barbara Keßler, Leiterin der Telefonseelsorge. Ein Ehrenamt ohne Ehre. Das sorgsam gehütete Geheimnis um den genauen Ort der Diensträume und die Identität der derzeit 61 Mitarbeitenden ist deshalb so wichtig, weil es auch zu Bedrohungen kommen könnte. Weil Anrufer Grenzen nicht kennen. Die Mitarbeitenden zu Hause anrufen würden. Oder weil sie sich gar nicht mehr trauen, bei der Telefonseelsorge anzurufen, wenn der Ansprechpartner bekannt ist und einem auch mal begegnen könnte.

Viele Mitarbeitenden kommen aus kaufmännischen oder technischen Berufen, die im Job immer mehr Menschenkontakte vermissen. Und sie ausgerechnet am anonymen Telefon doch wieder finden. Auch Marion hat es sich so ausgesucht. "Ich habe damals ein Ehrenamt gesucht, das mich wirklich fordert", sagt sie. Und das hat sie gefunden. Eineinhalb Jahre wurde sie in der Ausbildung darauf vorbereitet, und in der Supervision arbeitet sie das Erfahrene mit ihren Kollegen gemeinsam auf. Mit den Jahren ist es ihr immer besser gelungen, weniger vom Dienst mit nach Hause zu nehmen. Auf dem Fahrrad verlieren sich die Gedanken.

Marion ist gläubig, sie ist überzeugt, das Leben ist ein kostbares Geschenk. Ein Glück, das sie teilen möchte. "Wer noch nie selbst eine Krise hatte, schlägt sich nicht die Nächte um die Ohren und hört sich die Sorgen Anderer an. Alle haben ihren Rucksack, und ich gehe damit eben wandern."

Als sie das sagt, lächelt sie, ihre Augen funkeln. Nur ganz wenige Menschen können das sehen. Aber alle hören. *Name geändert

(NGZ)
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