Neuss Ein Autor, der Erzähltes weiterdenkt

Neuss · Guntram Vesper, in diesem Jahr für seinen Roman "Frohburg" mit dem Leipziger Buchpreis geehrt, eröffnet am Dienstag den Literarischen Sommer. Seinen Erzählstil zeichnet die Verknüpfung von Fiktion und realen Ereignissen aus.

 Guntram Vesper, lebt und arbeitet heute Göttingen, stammt aus der Kleinstadt Frohburg.

Guntram Vesper, lebt und arbeitet heute Göttingen, stammt aus der Kleinstadt Frohburg.

Foto: Heike Bogenberger

So wie Guntram Vesper schreibt, erzählt er auch. Lebhaft, konzentriert, kommt vom Höcksken aufs Stöcksken, wie es heißt, aber verliert nie den Faden. Sein mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneter Roman "Frohburg" wird allenthalben gern und zu Recht als "opus magnum" bezeichnet, geht über 1000 Seiten, erzählt ungeheuer dicht und sehr assoziativ vom Leben in der sächsischen Kleinstadt an der Grenze zu Thüringen und ist dabei doch viel mehr als "nur" eine Lebensgeschichte. Vesper springt zwischen den Zeiten, lässt seitenlang die Großeltern reden, auf anderen ist er selbst im Hier und Jetzt der Erzähler. Er verknüpft tatsächliche Ereignisse mit Aus- oder besser: Weitergedachtem, auf eine Weise, die Fiktion und Realität miteinander verschmelzen lässt.

"Ja", sagt der 75-Jährige schmunzelnd und erzählt an einem Beispiel, wie er das geschafft hat. Da gibt es etwa die vier/fünf Seiten über einen nächtlichen Stadtrundgang des Schriftstellers Erich Loest anlässlich seiner Lesung für den Kulturbund Frohburg. "Davon hatte mir Loest beim 80. Geburtstag von Günter Grass erzählt", sagt Vesper, "als Reaktion darauf, dass ich darüber klagte, dass nie ein Schriftsteller in meiner Geburtsstadt war." Loest also war da, und Vesper schickt ihn auf einen Rundgang durch das nächtliche Städtchen, um Bilder von Erlebtem und Weitergebenem aus der Frohburger Vergangenheit mit Worten zu formen. "Das war so ein Einfall", sagt Vesper trocken, "denn ich habe mich gefragt: Wo ist er angekommen? Wie ist er angekommen? Was hat er gemacht?"

16 Jahre war Guntram Vesper alt, als seine Familie aus Frohburg in den Westen geflohen ist. Aber die kleine Stadt hat ihn nie losgelassen. "Sechs oder sieben Jahre" habe er an dem Stoff gearbeitet, sagt er und weiß genau, wie es dazu kam. "Als mein Vater sehr krank und ich auf dem Weg zu ihm war, ging mir der Gedanke durch den Kopf: Wenn er stirbt, ist alles weg." Vor zehn Jahren habe er genau das von sich selbst gedacht - und angefangen, Material zu sammeln. Die Anschaffung eines Laptops damals ("eine echte Klapperkiste") hat er als Segen empfunden, weil er jeden Gedanken, "den Inhalt meines Kopfes wie in einen Speicher hineintippen konnte", erzählt er. Die Geschichten fügten sich zu einem Strom zusammen, bestehend aus dem, "was ich bin, was unverwechselbar ist", sagt er.

Die ersten 100 Seiten seien entstanden, ohne dass er an eine Veröffentlichung gedacht hätte. "Später steuerte alles darauf zu", sagt er und ergänzt auch: "ich wusste aber auch: Wenn es ein Buchprojekt werden würde, war ich nicht mehr so frei." So hat er zum Beispiel Namen verschlüsselt, musste auch vieles streichen: "Ob das nun 200 oder 400 Seiten waren, kann ich nicht sagen", sagt er lachend, "ich hatte den Roman erst auf Papier gesehen, als der Verlag sich darum kümmerte." Aber die Zahl der Anschläge seines elektronischen Manuskripts kennt er: "2.400.000 Millionen!" Ausgedruckt ergab das einen Papierstapel von 35 Zentimeter Höhe.

Überhaupt kann der 75 Jahre alte Autor auf den Tag benennen, was mit dem Roman wo geschehen ist. So hat er den Umbruch des Buches ins Krankenhaus geliefert bekommen, konnte erst Korrektur lesen, als er wieder zu Hause war: "120 Seiten pro Tag", sagt er - kein Wunder, dass er direkt danach wieder krank wurde.

Heute aber geht es dem in Göttingen lebenden Autor, der zuvor vor allem für seine Gedichte, seine Hörspiele und Essays bekannt war, wieder gut. 24 Lesungen aus "Frohburg" hat er hinter sich, eine ebendort vor rund 500 Zuhörern. Dass er sich auf die Fahrt nach Neuss, auf die Eröffnung des "Literarischen Sommers" wirklich freut, ist seiner Stimme anzuhören. Zumal er sich der praktischen Hilfe seiner Frau sicher sein kann: "Sie sagt mir, wann ich wo sein muss", erzählt er und ergänzt lachend: "Sie packt nicht nur, sondern kleidet mich auch an."

(hbm)
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