Enno Stahl "Ellbogen spielen eine zentrale Rolle"

Neuss · Der Holzheimer Autor hat Beobachtungen aus der Realität in seinen Roman "Spätkirmes" einfließen lassen. Stahl arbeitet in Düsseldorf, ist Schriftsteller, Performance-Künstler und Literaturwissenschaftler. Er lebt mit seiner Familie in Holzheim.

 Enno Stahl lebt in Holzheim.

Enno Stahl lebt in Holzheim.

Foto: Woi

Neuss Mit seinem Roman "Spätkirmes" hat der in Holzheim lebende Autor Enno Stahl auch ein Stück Alltagswelt aus seiner Umgebung abgebildet. Er erzählt, wie er auf die Idee zu dem Buch gekommen ist und wo die Gemeinsamkeiten mit der Realität liegen.

Gibt es überhaupt eine Spätkirmes?

Enno Stahl Ja natürlich. Eine Spätkirmes findet traditionell in der zweiten Jahreshälfte statt, im späten Sommer oder im Herbst, oft, aber nicht zwingend, an irgendwelchen Heiligentagen orientiert, etwa St.-Bartolomäus. Normalerweise ist die Kirmes hier in der Gegend ja eher im Mai, Juni oder Juli. Die Kirmes in meinem Buch wird allerdings aus einem besonderen Anlass abgehalten und natürlich ist der Titel auch sinnbildlich zu verstehen.

Wieviel Holzheim steckt in Kirchweiler?

Stahl Kirchweiler ist zwar, wie man liest, im Rheinland situiert. Gleichzeitig kann der Ort aber überall sein. Ich habe hier an das aus der Mathematik bekannte Verfahren der Induktion gedacht. Man geht von einem Einzelfall aus und versucht, dieses zu verallgemeinern. Es geht also nicht so sehr um das eine Kirchweiler, sondern um das Kirchweiler in allen Orten. Ich wohne in Holzheim und was ich sehe, färbt natürlich ab auf das, was ich tue, auch literarisch. Aber es ist nicht so, dass es eine Art Schlüsselroman wäre. Die Personen des Romans haben keine direkten Vorbilder in der Wirklichkeit. Es sind rheinische Menschen, die exemplarisch für alle Menschen auf dem Dorf stehen. Für das also, wie sich Deutschland im Moment in der Provinz darstellt.

Sie danken im Nachwort dem Holzheimer Pfarrarchiv.

Stahl Richtig. Das Buch läuft wie auf Gleisen über verschieden Glossen, die jedes Kapitel einleiten. Diese Glossen sind alle Zitate von dem Pfarrer Peter Josef Gerards, der im 19. Jahrhundert in Neuss gepredigt hat. Ein Archivkollege hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es diesen quasi literarischen Bestand gibt. Ich fand das sehr interessant, weil das ein Bestand aus der Zeit des Kulturkampfes ist. Dort wird ziemlich verklausuliert der Widerstand gegen das preußische Bestreben formuliert, den Protestantismus hierzulande zur Staatskirche zu machen. Das Rheinland hat sich damals besonders heftig gewehrt, und viele Pfarrer sind sogar dafür ins Gefängnis gegangen. Unter anderem ist auch die Neuss-Grevenbroicher Zeitung deswegen entstanden. Aus diesem Grund und weil die Predigten auch allgemein Menschliches zum Ausdruck bringen, das also die Dorfbewohner direkt berührt, habe ich die Zitate meinen Kapiteln vorangestellt.

Eine der Romanfiguren ist ein Junge mit Down-Syndrom. Er wird von den übrigen Dorfbewohnern ziemlich grausam behandelt.

Stahl Das ist nicht unbedingt richtig. Der Junge hat einen Sprachfehler und eine geistige Behinderung. Solche Defekte ereignen sich, wenn die Eltern vor der Geburt zu sehr dem Alkohol ergeben waren. Die Grausamkeit ist auch ein Ausdruck des erhöhten Drucks, unter dem alle leben, selbst in der Provinz. Das ist ja eine These meines Buchs, dass in unserem neoliberalen Wirtschaftssystem die menschlichen Beziehungen immer mehr zerbröckeln. Die Ellbogen spielen hier eine zentrale Rolle.

Ist das Ehepaar Tannert, also die Hauptfiguren des Romans, ebenfalls ein Opfer des Neoliberalismus? Immerhin hat der Juniorprofessor Hannes ja keine Aussicht auf Verlängerung seines Vertrags, während Meta Tannert seit der Geburt ihrer Tochter Cora nur noch auf 400-Euro-Basis tätig ist.

Stahl Ja, natürlich. In früheren Jahren sind solche Personen ganz problemlos in das Bürgertum aufgestiegen. Heute ist das sehr schwierig geworden. Man muss sich an prekären Beschäftigungen entlanghangeln, man wird älter. Die Unsicherheit wirkt erdrückend, etwa ob man ein gerade gekauftes Haus behalten kann.

Am Schluss der Handlung eskaliert diese, heißt es Klappentext. Was genau eskaliert?

Stahl Die Handlung eskaliert nicht so sehr im Äußeren als vielmehr im Inneren der Personen. Es steht allerdings auch der Vorwurf des Kindesmissbrauchs im Raum, der aber nicht tatsächlich nachgewiesen wird.

Rechtsradikalismus ist ein weiteres Thema Ihres neuen Buchs. Glauben Sie, dass er im ländlichen Raum stärker ausgeprägt ist als in den Städten?

Stahl Das glaube ich auf gar keinen Fall. Es ist nur so, dass man im kleinen Kontext solche Stimmen stärker vernimmt.

C. CLEMENS ÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort