Neuss Ex-Alkoholiker weiß, wie Süchtige ticken

Neuss · Täglich leerte er zwei Flaschen Wodka. Er war ganz unten: ohne Geld, ohne Wohnung, ohne Beziehung. Doch er kämpfte sich ins Leben zurück. Heute hilft er als Genesungsbegleiter anderen aus der Sucht.

 Vom Betroffenen zum Betreuer: Frankie hilft den Patienten, weil er glaubwürdig ist: "Ich bin einer von ihnen. Ich habe nur die Seite gewechselt."

Vom Betroffenen zum Betreuer: Frankie hilft den Patienten, weil er glaubwürdig ist: "Ich bin einer von ihnen. Ich habe nur die Seite gewechselt."

Foto: Woi

Wer mit 4,5 Promille Alkohol im Blut noch eine Zigarette drehen kann, den nennt er einen "Crack". Überhaupt formuliert er Sätze, die seinen Gegenüber wie Hiebe von Box-Weltmeister Wladimir Klitschko treffen: ansatzlos, schnörkellos, geradeaus. "Ich konnte mich nüchtern nicht mehr ertragen", sagt Frank Reichartz (54), der sich zu seinem Alkoholproblem bekennt. "Locker 20 Jahre" habe ihn die Sucht im Griff gehabt: "Ich habe mich arm getrunken." Mittellos, obdachlos, beziehungslos. Der Freund, der ihm blieb, hieß Wodka. Zwei Flaschen täglich: "Ein Suizid auf Raten."

Der, der da wie ein verbaler Krieger spricht und das Leben als Kampf begreift, kommt sympathisch rüber: klarer Blick, deutliche Worte, die Haare gekämmt, gepflegte Hände. Eine stattliche Erscheinung, ein Typ, der seine Hosenträger wie ein Markenzeichen trägt. Er, der frühere Alkoholiker, weiß wie Süchtige ticken: "Ich sehe genau, in welchem Stadium sie sind." Heute ist er trocken, arbeitet als Genesungsbegleiter dort, wo er früher Patient war: im Neusser Krankenhaus St. Alexius- / St. Josef an der Nordkanalallee.

Auf der Station Agatha scheinen ihn alle zu kennen - und er kennt offenbar alle: Ärzte, Pfleger, Angehörige und vor allem die Patienten. Viele seiner früheren Weggefährten - "von denen, die überlebt haben" - klingeln an der Türe. "Agatha" ist ihre letzte Hoffnung. Die Klingel öffnet die Türe zur Hilfe. Doch die, die morgens kommen, sind oftmals nachmittags wieder auf der Straße. Dennoch ist "Agatha" immer proppevoll, die 35 Akutbetten sind stets belegt. Im Vorjahr wurden dort 1500 Patienten behandelt.

An dieser Schnittstelle zwischen Hilfesuchenden und Hilfegewährenden kommt Frankie - wie sie ihn alle rufen - zum Einsatz. Er genießt das Vertrauen der Patienten, für die er glaubwürdig ist. "Ich bin ja einer von ihnen", sagt Frank Reichartz, "ich habe nur die Seite gewechselt." Wieder spricht er Klartext. "Wir Alkoholiker sind unheilbar krank. Wir können nicht mehr gesund werden", sagt er, "aber wir können die Krankheit stoppen." Und wie? "Das kann nur jeder für sich selbst tun."

Frank "Frankie" Reichartz hat es für sich getan. Aber um sich in ein neues Leben kämpfen zu können, musste er zunächst ganz unten gelandet sein. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie mit Yacht, Mercedes und teuren Reisen. Er war freiberuflicher Parkettleger - "und ich war unglücklich". Gegen die Depressionen trank er. Er verwahrloste, lebte auf der Straße. Das war im Frühjahr 2011. Der Komplettabsturz. Der mobilisierte in ihm doch noch die letzte Kraft, sich selbst ins St.-Alexius- / St.-Josef-Krankenhaus einzuliefern. Der erste Schritt in ein neues Leben - das am Ende eines langen Weges auf ihn wartete.

Die Ex-In-Ausbildung machte ihn vom Betroffenen zum Betreuer. Seit Dezember 2015 ist er als Genesungsbegleiter fest angestellt. Er lebt wieder in einer festen Beziehung, hat wieder Kontakt zu seinem Sohn und genießt seinen Schrebergarten. Heute habe er nix, aber er sei glücklich. Endlich könne er etwas mit Menschen machen. Davon habe er schon als Junge träumt. "Es geht", sagt Frankie, "aber nur nüchtern."

(-lue)
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