Neuss Faszinierende Geschichte wiederentdeckt

Neuss · Schauspieler Thomas Sarbacher las aus dem Roman "Der Reisende" im Café Flair.

 Thomas Sarbacher gab dem "Reisenden" eine Stimme.

Thomas Sarbacher gab dem "Reisenden" eine Stimme.

Foto: Agentur Velvet

Eine literarische Perle berührt und bewegt seit kurzem auch die deutsche Leserschaft. Der 1939 in England veröffentlichte Roman "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz erschien erstmals in deutscher Sprache. Zu verdanken ist die Wiederentdeckung dem Verleger Peter Graf, der das Buch derzeit mit dem Schauspieler Thomas Sarbacher präsentiert. Damit geht "Der Reisende" auf Reisen und bescherte den Zuschauern im voll besetzten Café Flair einen packenden Abend. Dorothea Gravemann vom Bücherhaus am Münster hatte die Lesung gemeinsam mit Pfarrer Frank Dohmes von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Neuss organisiert.

Thomas Sarbacher las drei längere Passagen aus dem Buch und gab dem grandios erzählten Meisterwerk eine beeindruckende zusätzliche Dimension. Wir erfahren, wie der jüdische Kaufmann Otto Silbermann 1938 aus seinem Haus in Berlin vertrieben wird. Sein Geschäftspartner Findler will es ihm für einen Spottpreis abluchsen. Wie perfide und listig er das anstellt, schildert der damals erst 23-jährige Autor mit unglaublicher Leichtfüßigkeit. Noch schlimmer treibt es Silbermanns engster Vertrauter, der ihm die Freundschaft aufkündigt und ihn betrügt.

Der wohlhabende Kaufmann verliert Heimat und Existenz und begibt sich mit seinem letzten Besitz, einem Koffer voller Geld, auf eine Odyssee durch Deutschland. Die Reichsbahn wird zu seinem Zuhause. In den Zügen trifft er auf die Archetypen der damaligen Zeit - Flüchtlinge, Nazis, Arbeiter. Die Begegnung mit einer jungen Frau wirkt sich besonders nachhaltig aus. Ihre irrlichternden tanzenden Augen und ihre Stimme von warmer Helligkeit regen ihn an, spenden ihm Lebensfreude und wecken sein Begehren. Allein bei diesem Kapitel lässt sich erspüren, welche literarischen Höhenflüge Ulrich Alexander Boschwitz noch hätte leisten können - wäre er nicht mit 27 Jahren auf tragische Weise verstorben.

Verleger Peter Wolf beleuchtete die Biografie des in Berlin aufgewachsenen Autors. Der Vater Kaufmann, die Mutter Malerin, die Familie lebte ihre jüdische Komponente nicht aus. Bewusst wurde ihr das erst durch Machtergreifung und Rassengesetze. Ulrich Alexander Boschwitz und seine Mutter emigrierten 1935 nach England, wurden dort bei Kriegsbeginn interniert und in ein Lager nach Australien transportiert. Bei der Rückreise 1942 torpedierte ein deutsches U-Boot das Schiff, mit 391 weiteren Passagieren ertrank auch der Autor. Verleger Wolf entdeckte das Original-Transkript des "Reisenden", als er sich der Exilliteratur aus der Weimarer Zeit widmete. Eine in Israel lebende Nichte von Boschwitz machte ihn auf dieses frühe Werk ihres Onkels aufmerksam. Ahnend, dass sein kleiner Verlag dem zu erwartenden Aufsehen nicht entsprechen könnte, überließ er die Veröffentlichung dem Verlag Klett Cotta.

(NGZ)
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