Neuss Geflohen in der Hoffnung auf ein sicheres Leben

Neuss · Familie Sadek hat in Kirkuk viel zurückgelassen: Eltern und Geschwister, eine eigene Werkstatt, eine große Wohnung. Die Angst vor dem IS war größer. Nun lebt die Familie in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes NRW für Flüchtlinge am Alexianerplatz. Teil eins unserer Serie zur Flüchtlingsproblematik in Neuss.

Neuss: Geflohen in der Hoffnung auf ein sicheres Leben
Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Und das alles lässt man stehen und liegen und macht sich auf in eine ungewisse Zukunft? "Wir hatten Geld", bestätigt Dana Kadr Sadek, aber: "Geld ist nicht alles, und der Krieg rückt immer näher." Zu oft hätten sie auf Frieden gehofft und seien immer wieder enttäuscht worden. An ein gutes Ende für ihre Heimatstadt glauben sie nicht mehr.

 Shayzar (4) liebt ihre Plüschmaus, die sie im Heim bekommen hat.

Shayzar (4) liebt ihre Plüschmaus, die sie im Heim bekommen hat.

Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Kirkuk liegt im Norden des Irak, ist Universitätsstadt und gewiss nicht arm. Die Mehrheit der Bewohner sind Kurden wie die Sadeks und allein dadurch im Visier der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Seit Monaten liefert sie sich rund um die Millionenstadt Gefechte mit kurdischen Kämpfern. Kirkuk ist eine wichtige Stadt, sie ist das Zentrum der irakischen Ölindustrie.

 Mutter Rezhin Karim würde am liebsten in der Region bleiben.

Mutter Rezhin Karim würde am liebsten in der Region bleiben.

Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Die Eltern wollten Sicherheit, vor allem für ihre Kinder. Nach Europa sind sie gekommen, weil sie "Leben suchen, egal wo", sagt Dana Sadek. Und warum Deutschland? Der 30-Jährige überlegt sich jedes Wort: "Weil wir soviel Gutes von Deutschland gehört haben." Vor rund drei Wochen fand ihre Flucht in München ein Ende. Und bis jetzt, so sagt der Iraker dankbar, hat seine Familie mit den Deutschen "sehr, sehr gute" Erfahrungen gemacht.

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Foto: dpa, rwe jai

Die Sadeks haben viel auf sich genommen. Für den Entschluss, ihre Heimat zu verlassen, brauchten sie kein besonderes Ereignis. Nur Hoffnung. Einen Koffer haben sie gepackt, aber noch auf der Flucht durch die Türkei und Bulgarien irgendwo liegenlassen, weil schon dieser eine zuviel Gepäck war.

Doch die Eisenstange hat der Vater behalten. Noch zu Hause hatten die Sadeks von den erstickten Flüchtlingen gehört, die in einem Laster in Österreich entdeckt worden waren. "Ich wollte sichergehen, dass wir rauskommen, wenn unser Laster irgendwo stehengelassen wird", sagt Dana Sadek und hat deswegen die Eisenstange eingepackt.

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Foto: dpa, fg jai

Zum Glück. Denn tatsächlich ließ ihr Lkw-Fahrer sein Fahrzeug mit insgesamt 150 Flüchtlingen irgendwo in Bulgarien stehen und machte sich aus dem Staub. Fünf Stunden und 20 Minuten - Dana Sadek weiß das ganz genau - haben sie abgewartet, weil sie nicht wussten, was passiert war, wo sie waren. "Viele waren bewusstlos", sagt er, und genau weiß er auch nicht, ob nicht jemand gestorben ist. Doch sie konnten sich befreien, aber wenn es nach der bulgarischen Polizei gegangen wäre, erzählt Dana Sadek, wären sie wieder in die Türkei transportiert worden. Umso dankbarer ist das Ehepaar, dass ein deutscher Beamter dafür gesorgt hat, dass die Familie weiterreisen konnten. Seine beiden Töchter hat der Vater auf dem 17 Stunden dauernden Fußmarsch nach Serbien und den weiteren 13 Stunden nach Ungarn getragen. Danyar ist tapfer gelaufen. Erst in Österreich hat die Familie einen Zug bestiegen, der sie nach München brachte.

Mutter Rezhin Karim überlässt das Reden weitgehend ihrem Mann, wirft nur gelegentlich einen Satz ein. Doch bei der Frage nach der neuen Wunschstadt wird sie energisch. Sie will am liebsten nach Düsseldorf oder noch besser in Neuss bleiben und begründet das mit Bekannten, die sie dort schon gefunden hat. Ehemann Dana ist damit nicht ganz einverstanden - eine kurze Diskussion auf Kurdisch und dann steht fest: "Wir richten uns nach meiner Frau", sagt Dana Sadek. Und schmunzelt.

Während die Eltern die Geschichte ihrer insgesamt zwölf Tage dauernden Flucht erzählen, sind die Kinder ganz still. Shayzar spielt selbstvergessen mit einer Plüschmaus, flüstert ihr mit zärtlicher Stimme etwas ins Ohr. Danyar und Hanyar hören zu. Oder auch nicht. Fast erleichternd ist es, zu sehen, dass sie einfach nur Kinder sind, die es ein bisschen langweilig finden, weil die Erwachsenen so viel reden, aber viel zu gut erzogen sind, um zu jammern. Außerdem gibt es zur Ablenkung ja noch diese leckeren Schokokekse.

An die drei Wochen werden sie in der ZUE verbringen. Die Familie ist in einem Zimmer untergebracht. Wie sie die Zeit herumbringt, muss sie noch herausfinden. Viel Wartezeit wird es geben, Stillstand für die Eltern und Kinder. Aber Hanyar hat schon die "Kinderstube" entdeckt, in der rund 40 Kinder zwischen null und zwölf Jahren unter der Leitung von Sozialhelferin Ruzika Jovanovic (28) aus Neuss und mit Hilfe einiger Müttern spielen und basteln. Für die Verständigung werden dort Hände und Füße eingesetzt, denn auch in der "Kinderstube" herrscht ein buntes Sprachengewirr aus Arabisch (mitsamt etlichen Dialekten), Persisch, Englisch, Französisch, Serbokroatisch, sogar Chinesisch. Aber das Kinderlachen ist eine Weltsprache.

Buntgemalte Bilder an den Wänden, kleine Stühle, eine Kuschelecke, viel Spielzeug auf dem Boden - die "Kinderstube" sieht aus wie ein normaler Kindergartenraum. Und die Kinder selbst? Wirken sie traumatisiert? Jovanovic überlegt. "Manchmal fällt auf, dass sie wild sind, viel toben, als ob da etwas raus muss", sagt sie. Aber auffällig? Nein, auffälliger als andere seien sie nicht, sagt sie, die sieben Jahre an einer Grundschule mit behinderten und auch sozial auffälligen Kindern gearbeitet hat und nun schon ein Jahr lang Flüchtlingskinder betreut.

Hanyar jedenfalls steuert zielstrebig ein bonbonfarbenes Mini-Schaukeltier an. Danyar und Shayzar, die bislang noch nicht viel davon hielten, in der "Kinderstube" zu spielen, entdecken jetzt die bunten Laternen und wollen am liebsten sofort eine basteln. Und so reagieren sie wie jedes Kind, dem Mutter oder Vater klarmacht, dass gerade nicht geht, was es will. Und das auch noch müde ist und Hunger hat. Es mault und weint ein bisschen.

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(NGZ)
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