Neuss Gerechtigkeit braucht mehr als ein Hashtag

Neuss · Regisseurin Caro Thum liefert im RLT eine durchaus diskutable Folie für Franz Kafkas "Der Prozess".

 Hergard Engert, Josia Krug, Andreas Spaniol auf der Bühne in Neuss.

Hergard Engert, Josia Krug, Andreas Spaniol auf der Bühne in Neuss.

Foto: RLT

Der Untertitel der neuen Inszenierung des Neusser Theaters klingt beinahe wie eine Drohung. "Im Abitur" heißt es bei der Dramatisierung des Kafka-Romans "Der Prozess". Für so manche Gymnasiasten ist das Pflicht-Leseprogramm der Stoff, aus dem ihre Alpträume sind. Also auf ins Theater, um endlich das zu verstehen, worüber sich bereits Generationen den Kopf zerbrochen haben. Zumal auf den Plakaten und im Foyer verschiedene Hashtags locken. Eins davon lautet "#Das Gesetz schläft nie". Kafka als Tweet?

Ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Das Romangeschehen ist in der Regie von Caro Thum auf seine skurrilen und grotesken Momente verkürzt, von denen es allerdings nicht wenige gibt. Erst im zweiten Teil des Abends entfaltet der Originaltext seine beklemmende Wirkung. Vorher blickt man auf ein paar Sessel und einen Schrank, der sich bald als begehbare Wundertüte erweist. Und auf Berge von Wäsche. Vor allem aber auf fünf Darsteller, von denen nur einem eine ausfüllbare Rolle gegönnt ist. Philipp Alfons Heitmann ist jener Josef K., der an seinem dreißigsten Geburtstag plötzlich verhaftet wird, ohne Angabe von Gründen. Heitmanns Protagonist zeigt Haltung, gute Manieren, später die Indignation eines Karrierebeamten.

Was da um ihn herum an Verrücktheiten geschieht, und das ist nicht wenig, bringt ihn nur ganz langsam aus der Fassung. Das schrille Gelächter seiner Vermieterin Frau Grubach, die hysterischen Anfälle des eigentlich stocksteifen Fräulein Bürstner, vor allem aber die albernen Hampeleien der beiden Gefängnisdiener, das alles nimmt Josef K. mit bizarrer Ernsthaftigkeit zur Kenntnis. Heitmanns vier Mitspieler (Hergard Engert, Johanna Freyia Iacono-Sembritzki, Josia Krug und Andreas Spaniol) übernehmen alle weiteren Rollen, indem sie aus dem Wäschehaufen in die merkwürdigsten, nicht unbedingt passenden Verkleidungen schlüpfen.

Bis zur Pause erlebt man vor allem ein Stück absurdes Theater à la Jonesco, mit Lach-Stafetten, rasselndem Wecker und lustigen Pfeifchören. Trotz der Begegnung mit Josefs Onkel und weiteren Figuren scheint Kafkas Roman zunächst beinahe vergessen.

Das ändert sich im zweiten Teil, eindrucksvoll angedeutet durch ein neues Requisit auf der Bühne. Es ist ein Hochstuhl mit Leiter für den Advokaten Huld, der sich selbst eindringlich als einzige Möglichkeit anpreist, das obskure und übermächtige Gerichtswesen zu durchdringen. Dies tut dann auch der Maler Titorelli, der vorgibt, alle Richter zu kennen, weil er sie porträtiert, vielleicht aber auch, weil er ihnen Mädchen zuführt. "#gerechtigkeit" heißt ein anderes Hashtag des Neusser Abends. Bei Kafka beschreibt dieser Begriff eine schiere Unmöglichkeit. Als Josef K. von einem Geistlichen die über den Roman hinaus bekannte "Türhüterlegende" hört, erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Situation.

Caro Thum und ihre Dramaturgin Alexandra Engelmann bieten mit ihrem teilweise grellen Bilderreigen eine durchaus diskutable Folie für Kafkas "Prozess". Und, wer weiß das schon, vielleicht eine Steilvorlage für die Aufgaben im nächsten Zentralabitur.

(NGZ)
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