Neuss Großartige Stimme liest aus wunderbarem Buch

Neuss · Für die Lesung von Hanns Zischler beim Literarischen Sommer hat die Stadtbibliothek den Schauplatz verlegt - ins Theater am Schlachthof.

 Schauspiel, Fotografie, Literatur: Hanns Zischler übt seine Talente über verschiedene Metiers aus.

Schauspiel, Fotografie, Literatur: Hanns Zischler übt seine Talente über verschiedene Metiers aus.

Foto: Andreas Woitschützke

Damit hatte Alwin Müller-Jerina nicht gerechnet. Weil er als der Leiter der Neusser Stadtbibliothek den berühmten Schauspieler Hanns Zischler für eine Lesung gewinnen konnte, wollte er dem Gast mit dem Veranstaltungsort "Theater am Schlachthof" seine Reverenz erweisen. Und dann das: "Ich habe Angst vor fensterlosen Räumen", bekannte Hanns Zischler vor ausverkauftem Haus. Es wurde dennoch ein großartiger Abend des "Literarischen Sommers".

Pünktlich, ja sogar überpünktlich, war Zischler mit dem Zug aus Berlin angereist. In der Künstlergarderobe schwärmte er von der Überquerung des Rheins: "Ich liebe Flüsse, und leider hat mein Wohnort Berlin da nichts zu bieten." Gerade hat er eine Ballonfahrt über die Loire gemacht und begeistert sich an deren ungezügelt mäandrierendem Lauf. Auch seinen vor Jahren gegründeten "Alpheus"-Verlag hat er nach einem antiken Flussgott benannt, der als Süßwasserstrom quer durch das Meer eine von ihm umschwärmte Nymphe verfolgte. "Da gewinnt das Wort ,stromlinienförmig' eine neue Bedeutung", sagt Zischler, der seine Talente über verschiedene Metiers ausübt. Neben der Schauspielerei und dem Verlegen von kunstvoll illustrierten Büchern hat es ihm vor allem die Fotografie angetan. In Zeiten der digitalen Bilder kehrt er mit Lust zurück zur anspruchsvollen Arbeit mit der Lochbildkamera. Dennoch: "In allem, was ich tue, bin ich ein Autodidakt".

Ein weiteres Talent führte Hanns Zischler jetzt nach Neuss. Es ist sein Romandebüt und trägt den Titel "Das Mädchen mit den Orangenpapieren". Die Geschichte handelt von Elsa, einem Mädchen, das es Mitte der 1950er Jahre mit seinem Vater von Dresden nach Bayern verschlagen hat. In eine kleine Stadt an dem kleinen Fluss Ache, wo sie langsam Freunde findet. Darunter eine Obsthändlerin, die für Elsa die exotischen Papiere aufhebt, in denen die Orangen eingeschlagen sind. Die Rezensenten sind von diesem neuen Zischler-Talent begeistert: "Wer hätte gedacht, dass jene hauchdünnen, knisternden Blättchen eine so wunderbare Idee anregen könnten?"

Noch vor dem Beginn seiner Lesung wehrte Hanns Zischler eine mögliche Frage nach autobiografischen Bezügen ab: "Natürlich gibt das eigene Leben immer den ersten Impuls. Aber dann bewegt sich die Feder weg und erfindet neues Leben." Und dann legte er los mit seiner großartigen Stimme, die schon unzählige Hörbücher gesprochen hat. Schöne Gestik, kurze Erläuterungen zwischen den Passagen und immer wieder der Blick ins Publikum, dafür war man auch einem extrem heißen Sommerabend gekommen. Zischler imitiert weder den Dresdner Tonfall seiner Heldin noch das bayrische Granteln der neuen Umgebung. Als indes ein englisches Mädchen in der Handlung auftaucht, zeigt der Autor seine Souveränität auch in dessen Muttersprache.

Weit über eine Stunde lang folgte man der zart-romantischen Geschichte. Alwin Müller-Jerina hatte einen örtlichen Obsthändler aufgesucht und um Orangenpapiere gebeten, die er den Gästen als Souvenir mitgeben wollte. Leider ohne die wunderschönen Motive von früher. Zumindest als Plakat konnte man aber einige bewundern, etwa Struwwelpeter und Nick Knatterton. Hanns Zischler hat selbst eine Sammlung mit ein paar tausend Orangenpapieren.

(NGZ)
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