Neuss "Hakuna Matata" für den Knaben

Neuss · Normalerweise schaut man auf die Kunst. Was ist, wenn die Kunst auf uns schaut? Wir haben es probiert. Zum Beispiel im Stadtgarten, mit dem "Sitzenden Knaben" von Marga Groove-Markovic.

 Gut beschirmt: Autorin Nicole Scharfetter und Marga Groove-Markovic' Skulptur "Sitzender Knabe" im Stadtgarten.

Gut beschirmt: Autorin Nicole Scharfetter und Marga Groove-Markovic' Skulptur "Sitzender Knabe" im Stadtgarten.

Foto: Andreas Woitschützke

Es ist ein kalter Morgen an diesem Mittwoch. Viel zu kalt für die Jahreszeit. Ich schalte die Heizung im Auto an. Auf dem Weg zum Stadtgarten fallen Tropfen auf meine Windschutzscheibe; dicke, runde, die platzen, wenn sie auf dem Glas landen.

Ich hadere mit mir, will gar nicht aussteigen, weil es so gemütlich geworden ist im Auto - muckelig und warm. Aber ich bin verabredet mit einem jungen Mann, der im Stadtgarten auf mich wartet. An einem anderen Ort wäre für ihn nicht gegangen, ein Café zum Beispiel, weil der Junge im Stadtgarten lebt und dort nicht wegkommt oder nicht weg will. Und obwohl der Himmel immer noch trüb ist und grau, gebe ich mir einen Ruck. Ich steige aus und sehe ihn, den sitzenden Knaben, mit dem ich den Vormittag verbringe, der mir einen Platz anbietet neben sich auf seinem Sockel.

Aus dem Regen ist Niesel geworden, der am Arm des Knaben abperlt. Ein freundliches Gesicht hat er, seine Augen schauen in den Himmel, er streckt den Arm aus, als würde er nach etwas greifen. Aus meiner Tasche hole ich einen Regenschirm - weiß mit bunten Punkten drauf. Viel Platz ist nicht darunter, aber ich halte den Knirps so, dass auch der Knabe im Trockenen sitzt. Er teilt mit mir seinen Sockel, ich mit ihm meinen Schirm. Ein vielversprechender Start in einen gemeinsamen Morgen.

Seit 53 Jahren sitzt der Knabe nun schon da, an diesem Ort, der zwischen zwei Welten liegt, zwischen Idylle und Hektik. Hinter ihm der Park mit Wiese und Bäumen, vor ihm die Straße mit hupenden Autos, schimpfenden Insassen und schlechter Luft. Ein paar Blumen hat man dem Knaben zu seinen Füßen gepflanzt, damit die schöne Welt nicht so abrupt endet, und der Weg, der an dem Knaben vorbeiführt, macht kurz vor dem Donnern und Rumpeln, das von der Straße kommt, noch mal einen Bogen, zurück in den Park, wie ein Fluchtweg für alle, die noch nicht bereit sind in den Alltag zurückzukehren.

Obwohl das Wetter an diesem Morgen schlecht ist, sind erstaunlich viele Menschen unterwegs im Park. Ein Mädchen mit leuchtend roten Haaren joggt an uns vorbei, es bleibt auf dem Parkweg, läuft zurück in den Stadtgarten. Lange dauert es nicht, da taucht es wieder auf, seine roten Haare sind strähnig geworden vom Schweiß und dem Regen. Diesmal schlendert es, vielleicht hat es keine Puste mehr. Als es auf unserer Höhe ist, wird das Mädchen langsamer, verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse. So als wäre der Knabe sein Freund oder der Junge, in den es heimlich verliebt ist, und plötzlich sitze ich da, eine fremde und teile mit dem Jungen Schirm und Sockel. Dabei bin ich viel älter als der Knabe. Und älter als das rothaarige Mädchen. "Simba, nein", ruft eine Frau aus dem Hintergrund. "Aus, Simba!" Sehen kann ich die Frau nicht, und auch Simba nicht. Vielleicht springt gleich ein Löwe aus dem Gebüsch. Sekunden später schnüffelt ein blonder Labrador an meinem Fuß, schwanzwedelnd fixiert er meinen Schnürsenkel. Wieder das Rufen: "Simba, hierhin". Ein bisschen ähnlich sieht er seinem Namensvetter aus "König der Löwen"ja, bevor die Pranken riesig werden und die Mähne prächtig - als Simba mit Timon und Pumba durchs Land zieht und Hakuna Matata (etwa: leben ohne Probleme) besingt.

Ein bisschen Hakuna Matata wünsche ich auch dem Jungen, und ein Leben ohne Sorgen. Denn während wir so dasitzen, nebeneinander, wird sein Gesicht immer trauriger. Vielleicht ist das nur Einbildung, vielleicht ist das Wetter schuld. Vielleicht ist der Knabe ernsthaft traurig, weil er seit so vielen Jahren schon dort sitzt, im Stadtgarten. Oder vielmehr mit dem Stadtgarten in seinem Rücken und der trubeligen Welt voraus. Ich wünschte, er könnte einmal gucken, über die Schulter, seinen Kopf drehen, und sehen, wie schön der Park ist, der hinter ihm liegt. Oder seinen Sockel nehmen und ihn dort hinstellen, wo er die Autos nicht sieht, und er das joggende Mädchen mit den roten Haaren entdeckt und die Blicke sich treffen, schon viel früher, als sie es jetzt tun.

(NGZ)
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