Neuss Knatsch im Hinterhof

Neuss · Theaterkunst ist, wenn ein langer Abend nicht lang wird: Jörg Reimer inszeniert am Rheinischen Landestheater "Ilias nach Homer", eine sehr eigene Fassung von Homers Epos Ilias.

Neuss: Knatsch im Hinterhof
Foto: Björn Hickmann

Mit nur drei Darstellern erzählt Regisseur Jörg Reimer eine Geschichte, für die sein Kollege Wolfgang Petersen 2004 hunderte Millionen Dollar und Tausende Komparsen benötigte. In dem dem legendären blinden Dichter Homer zugeschriebenen Epos "Ilias" geht es um einen knapp zweimonatigen Zeitraum des trojanischen Krieges. Blutige Schlachtszenen wechseln sich ab mit bildreichen Beschreibungen, intensiven Dialogen und psychologischen Feinzeichnungen der Hauptfiguren. Immer wieder wandert der Schauplatz vom Schlachtfeld rund um Troja auf den Götterberg Olymp.

Jörg Reimer und Karla Fehlenberg (Bühne und Kostüme) lassen drei Figuren in farbigen Overalls auf einer zweigeteilten Bühnenwelt agieren. "Epos trifft auf Bühne und führt uns an die Anfänge unseres Theaters" sagt der Regisseur. Die Eingangsszene gehört dem Erzähler/Chor, so wie damals, als bei dionysischen Spielen der "Bocksgesang", die Tragödie, geboren wurde. Aus ein paar Tropfen roten Traubensafts, vergoren für den Sinnesrausch, werden in der Handlungsfolge Ströme menschlichen Bluts. Links ist die Anhöhe von Troja zu sehen, mit dem Lager der Griechen und deren Superheld Achilles, der sich wegen eines Beutestreits vom Kampfgeschehen zurückgezogen hat. In der wunderbaren Übertragung Raoul Schrotts hört man die Verse Homers. Sie berichten von Männerlaunen und Eifersüchteleien, alles mit ziemlich großem Pathos. Dann heißt es hinüberschauen nach rechts, wo die Götter zuhause sind. Wer dort noch mehr Pathos erwartet, wird überrascht aufhorchen.

Auf dem Gipfel des Olymp ist nämlich eine Taverne eingerichtet. Die heißt zwar "Tragödie", doch was sich dort abspielt, ist eher "Knatsch im Hinterhof". Zeus hat Dauerzoff mit seiner Gattin Hera, die ihn mit Berliner Schnauze ständig runterputzt. Grund für die Streiterei ist natürlich die wechselnde Parteinahme im Krieg der Griechen und Trojaner. Aber auch die zahlreichen irdischen Liebeseskapaden des Kronos-Sohns und die daraus entstandenen Halbgötter. Zusammen mit dem ungeliebten Sohn Ares raucht man Elektropfeife und keift derart laut, dass es auf der Erdenwelt nur so kracht. "Hock dich da rüber, das ist der Hera ihr Platz", putzt der Göttervater seinen Sohn runter, um seine Gattin dann als "dumme Kuh" zu beschimpfen.

Es ist gerade dieser Wechsel von olympisch-biederem Kleinkrieg und irdisch-exzessiver Gewalt, die dem zweistündigen Abend seine Gedankenschwere nimmt und die Zuschauer bis zur letzten Minute fesselt.

Das alles und noch viel mehr leisten die drei Schauspieler Juliane Pempelfort, Richard Langscheidt und Andreas Spaniol. Souverän meistern sie die ungeheure Textmenge und schlüpfen in die zahlreichen Rollen von Göttern und Menschen. Juliane Pempelfort beispielsweise agiert als zorniger Achill, als zickige Hera, als edle Fastwitwe Andromache und als noch edlere Pallas Athene. Die beiden Männer tun es ihr gleich. Eine "Heldenfahrt" im großen Meer der Antike, nennt Jörg Reimer seine wirklich sehenswerte Inszenierung. Es gab einen langen Beifall des Premierenpublikums. Claus Clemens

(NGZ)
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