Neuss Leichtigkeit und Düsternis

Neuss · Das Gastspiel der kubanischen Compagnie Acosta Danza eröffnete die Internationalen Tanzwochen.

 Der Pas de deux "Mermaid" mit Marta Ortega in der Choreographie von Sidi Larbi Cherkaoui beschert ein Wiedersehen mit Carlos Acosta als Tänzer.

Der Pas de deux "Mermaid" mit Marta Ortega in der Choreographie von Sidi Larbi Cherkaoui beschert ein Wiedersehen mit Carlos Acosta als Tänzer.

Foto: J. Persson

Ein männlicher Körper, zusammengekauert und fast entblößt, liegt im grellen Licht. Der muskulöse Tänzer auf der anderen Seite der Bühne verharrt hoch aufgerichtet. Zirpend setzt die Musik ein. Langsam breitet er die Arme aus, als wolle er gleich abheben. Bewegungen in Zeitlupe, die ihn Zentimeter um Zentimeter vorwärts schieben, hin zu seinem noch entfernten Partner.

Das Gefühl, er müsse mit höchster Konzentration einen imaginären Abgrund überbrücken, trügt nicht: In ihrem Ballett "El cruce sobre El Niagara" thematisiert Choreographin Marianela Boan den waghalsigen Akt des französischen Artisten Blondin, der am 30. Juli 1859 als erster Mensch die Niagara-Fälle auf dem Hochseil überquerte. Sein Kunststück gelang ihm einmal auch mit einem Mann auf dem Rücken, was das 1987 uraufgeführte Ballett mit kraftvoller Akrobatik nachzeichnet. Die beiden Tänzer verschmelzen und werden zu einem symbiotischen Wesen.

Mit dieser faszinierenden Körperstudie beginnt das Gastspiel der kubanischen Compagnie Acosta Danza zum Auftakt der Internationalen Tanzwochen Neuss. Es spricht für das Renommee der Reihe, dass der Abend nur drei Tage nach der Welturaufführung im Londoner Tanzhaus Sadler's Wells in Neuss zu sehen war. Seine Compagnie mit 14 Tänzern, allesamt aus Kuba, gründete der in Havanna geborene und vielfach preisgekrönte Ballettstar Carlos Acosta 2016. Nach dem Abschied vom Londoner Royal Ballet kehrte er in seine Heimat zurück. Mit Marta Ortega tanzt Acosta in diesem Programm den berührenden Pas de deux "Mermaid" (Choreographie Sidi Larbi Cherkaoui): Eine Frau im roten Kleid schwankt, findet keinen festen Boden unter den Füßen. Als ihr Beschützer fängt er sie in Liebe auf.

Vier der fünf Stücke wurden erst 2017 uraufgeführt. Leichtigkeit und Lebensfreude versprüht "Belles Lettres" von Justin Peck, ein klassisches Ballett mit Spitzentanz. Zur beschwingten Musik von Cesar Franck wirbeln vier Paare und ein glänzender Solist über die Bühne.

Nach der Pause zieht zunächst Düsternis ein. "Imponderable", ein Werk des Choreografen Goyo Montero, erschließt sich nicht mühelos. Man hört ein Gedicht in spanischer Sprache, später, in den heiteren Passagen, folkloristische Lieder. Gern wüsste man, worum es hier geht, der Tanz allein gibt wenig Hilfestellung. Scheinwerfer blenden auf, Taschenlampen flackern, Körper robben über den Boden. Dennoch beeindrucken die Energie und Dynamik der Truppe. Das wird honoriert, die Zuschauer brechen nach dieser virtuosen Darbietung in lautstarken Jubel aus. Er steigert sich noch nach dem fesselnden Schlusspunkt.

"Twelve" von Jorge Crescis passt in keine Ballett-Schablone. Auf dem Boden ein gleißend helles Schlösschen aus inwendig beleuchteten Plastikflaschen, dessen Demontage umgehend beginnt. 20 Minuten lang fliegen Flaschen durch die Luft, werden wie bei der Jonglage im Zirkus geschleudert und mit bestechender Sicherheit aufgefangen. Mal bohrt sich die Musik von Vincenzo Lamagna dröhnend in die Ohren, mal herrscht Stille, nur unterbrochen vom Zählen der Tänzer auf spanisch, immer von eins bis zwölf.

Das Ballett der Wasserflaschen legt ein irrwitziges Tempo vor, die wilde Horde ist ständig auf dem Sprung. Atemberaubendes Tanztheater.

(NGZ)
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