Neuss Lesung mit Einblicken in Belgiens Geschichte

Neuss · Der Schriftsteller Stefan Hertmans hat beim Literarischen Sommer seinen Roman "Der Himmel meines Großvaters" vorgestellt.

 Stefan Hertmans machte aus seiner Lesung ein faszinierendes Seminar über die belgische Geschichte.

Stefan Hertmans machte aus seiner Lesung ein faszinierendes Seminar über die belgische Geschichte.

Foto: Andreas Woitschützke

Für die Stammgäste des Literarischen Sommers gehört der Auftritt von Stefan Hertmans in der Stadtbibliothek wohl zu den besonders denkwürdigen Abenden. Der Belgier hatte einen neuen Roman im Gepäck, wie man es erwartete. Aber er ist doch in erster Linie Professor. So geriet seine Lesung zu einem faszinierenden Seminar über belgische Geschichte, die Konflikte zwischen der französischsprachigen und der flämischen Bevölkerung, über Kunst und vieles mehr. Vor allem aber waren die anderthalb Stunden eine liebevolle Hommage an den Großvater des 1951 in Gent geborenen Autors.

"Der Himmel meines Großvaters" heißt Hertmans' Roman in der deutschen Übersetzung. Der Originaltitel passt ihm viel besser: "Oorlog en terpentijn", also "Krieg und Terpentin". Denn der Großvater hat den Ersten Weltkrieg in den Schützengräben Flanderns überlebt, diese Jahre aber nie mehr vergessen können. Anders als in Leo Tolstois Roman "Krieg und Frieden" war die Zeit nach dem großen Gemetzel für den Mann eine nicht enden wollende Traumatisierung und baldige Arbeitsunfähigkeit. In der Malerei, daher das Terpentin, suchte er eine Bewältigung des Erlebten. Im Atelier des Großvaters entstanden indes keine expressionistischen Bilder des Grauens. Vielmehr bemühte er sich um Harmonie und kopierte flämische Meisterwerke, darunter mehrere Van Dycks und Rembrandts "Mann mit dem Goldhelm". Für einen Verkauf seiner Werke interessierte er sich nie.

Jahrelang hatte der Großvater auch seine Familie mit Geschichten aus dem Krieg "genervt". Dann plötzlich, Anfang der 1960er Jahre, setzte er sich hin und schrieb seine Memoiren. Als er die dicke Kladde seinem Enkel Stefan zu treuen Händen übergab, staunte der nicht schlecht: "600 Seiten, schön geschrieben, ohne ein einziges Wort durchzustreichen".

Zunächst aber fehlte noch die Zeit, sich mit dem Inhalt des Hefts auseinanderzusetzen. Nach dem Ende seiner akademischen Laufbahn las Stefan Hertmans zum ersten Mal diese Erinnerungen seines Großvaters und beschloss, sie zu einem Roman zu verarbeiten. Darin geht es um die Armut in Flandern vor dem Großen Krieg, die Arroganz der Wallonen gegenüber den "bäurischen" Flamen, und natürlich den Kadavergehorsam gegenüber den Offizieren, die ihre Soldaten für kleinste Geländegewinne in den Tod jagten. Dieser Gehorsam des Großvaters lässt den Autor heute schaudern. "Ich habe das Buch auch geschrieben, um zu zeigen, dass wir ganz andere Leute geworden sind, mehr Individualisten."

Der Roman hat Stefan Hertmans in seinem Heimatland berühmt gemacht. Er wurde mit dem Kulturpreis der flämischen Gemeinschaft ausgezeichnet und erscheint aktuell in französischer wie englischer Übersetzung. Vor allem das detailreiche Porträt der Stadt Gent in jenen Jahren fand in Belgien großes Interesse. "Auch die Königin hat mein Buch gelesen und will jetzt mir einen Spaziergang durch die Stadt machen", erzählte Hertmans.

Eingeflochten in die Romanhandlung ist aber auch die Geschichte einer großen Liebe. Sie währte nur allzu kurz, denn die Geliebte des Großvaters fiel kurz nach der Hochzeit der damals wütenden Spanischen Grippe zum Opfer. Er heiratete dann, wieder ging es um Gehorsam, deren Schwester, die Mutter des Autors.

(NGZ)
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