Neuss Nach 22 Uhr in die weihnachtsfreie Zone

Neuss · Anfang der 1980er Jahre zog es Rainer Holtappels Heilig Abend ins "Okie Dokie" - und von dort aus ins besetzte Haus.

 Es kam, wie 1981 von Rainer Holtappels und seinen Freunden befürchtet. "Drususallee 80", das besetzte Haus, ist heute eine schicke Adresse.

Es kam, wie 1981 von Rainer Holtappels und seinen Freunden befürchtet. "Drususallee 80", das besetzte Haus, ist heute eine schicke Adresse.

Foto: Woi

Born in the Sixties: Für Rainer Holtappels, selbst Jahrgang 1960, sind etliche der in dieser Dekade geborenen Menschen irgendwie Angehörige einer Generation dazwischen: Man war kein Hippie und zu jung für die 68er, aber auch nicht geil auf Karriere. Man war in gewissem Grade unangepasst - jedoch Weihnachten trotzdem, wie er sich erinnert, "artig daheim bei den Eltern". Aber nur bis 22 Uhr, denn dann spätestens büxte man Anfang der 1980er aus ins (alte) "Okie Dokie", wo es (schon damals) eine weihnachtsfreie Zone gab - mit Tannenbaum, an dem aber Ostereier baumelten.

Für den musikbegeisterten Jungen aus Kamp-Lintfort, den die Eltern - wie er sagt - im Alter von 17 Jahren nach Kaarst verschleppt hatten, war das "Okie Dokie" erst Stamm-Lokal, Jahre später wohnte er gleich neben der Pinte - und arbeitete dort als DJ und Kellner. Zwischendurch aber war das "Okie" eine wichtige Station auf einem Weg, der ihn Anfang 1981 in eines der besetzten Häuser in Neuss führte. "Das ergab sich halt so", sagt er heute. Anfang der 1980er war man - wenn man sich wie Holtappels politisch eher links verortete - gegen Atomkraft, diskutierte Umweltthemen und im "Okie" mit Freunden der "Deutschen Friedensgesellschaft vereinigter Kriegsgegner" die Nato-Nachrüstung - und ging natürlich nicht zum Bund. Auch Holtappels zog 15 Monaten Bundeswehr eine längere Dienstzeit im Altenheim vor.

Im Paul-Fliedner-Haus in Gnadental war der "Zivi" in der Betreuung der alten Menschen eingesetzt, nicht in der Pflege. Fantastisch sei das dort gewesen, sagt Holtappels: "80 nette Omas - und alle wollten, dass es dem jungen Mann gut geht." Und dem ging es dann auch gut. Doch der Dienst im Altenheim endete, und damit auch die Zeit, in der er dort ein Zimmer hatte. In die Frage "Wohin jetzt?" platzte eines Abends im "Okie" der Satz: Da wird an der Drususallee ein Haus besetzt. "Also sind wir da mit drei, vier Mann nachts eingestiegen", erinnert er sich. "Das Haus stand schon lange leer, und wir fühlten uns im Recht."

Die Hausbesetzerszene, das "Instandbesetzen" als Form des "Kampfes" gegen Miethaie und Immobilienspekulanten, war in Neuss - so klein wie sie war - sehr unterschiedlich. An der Krefelder Straße hatte sich eine Gruppe "eingemietet", die, so Holtappels, stramm links war. "Viele DKP- und SDJler", sagt er. Für ihn waren die "viel zu kadermäßig" und dogmatisch. Bei der überaus brutalen Räumung allerdings versuchten trotzdem alle gemeinsam, Schlimmes zu verhindern und irgendwie Widerstand zu leisten. Im Haus "Drusus 80" dagegen waren mehr die "Anarchos" und Punks wie das Mädchen, das alle nur "Tomcat" nannten. Da ging es eher chaotisch zu. Natürlich sei in den vielen und langen Plenumsdiskussionen im Haus auch über Themen wie Bewaffnung gesprochen worden, sagt Holtappels. Und natürlich gab es Mitbewohner, die das Haus nicht nur mit Fallen gegen ein Eindringen der Staatsmacht sichern, sondern diese Fallen auch noch mit Nägeln versehen wollten. Aber die Hardliner hätten sich nie durchgesetzt. Einen, der sich gerne einschloss und dem das Basteln an einer Bombe nachgesagt wurde, setzte die Vollversammlung vor die Tür. So war das mit der Suche nach alternativen Wohnkonzepten nämlich nicht gedacht. Der Alltag in der Kommune war auch so herausfordernd genug. Möbel kamen zwar vom Sperrmüll oder wurden von einigen der - zu Hochzeiten - fast 25 Bewohner aus deren Elternhäusern angeschleppt. Doch das Miteinander musste organisiert werden. Eine Heizung gab es nicht, aber das Wasser lief (seltsamerweise). Und Strom, erinnert sich Holtappels, stellte ihnen ein Nachbar zur Verfügung - so wie die Familie Gonzales von nebenan mehr als einmal eine Suppe für die ganze Mannschaft kochte. "Mit Kichererbsen."

Irgendwie lief der Laden, sogar mit einer Art öffentlichem Café, aber dann war da ja noch die Sache mit der Polizei. "Die haben uns beschattet und wir die", erinnert sich Holtappels, dessen altes Auto für solche Aktionen zum Einsatzfahrzeug dieser illegalen WG wurde. Mit "Rudi" und "Herbert", wie die beiden Beamten in Zivil und "Dauerschatten" fast freundschaftlich genannt wurden, hatten die Hausbesetzer sich bald irgendwie abgefunden. Bedrohlicher wurde es, wenn die Staatsmacht uniformiert vor dem Haus aufmarschierte - breitbeinig, mit Helm und Schild in der Stärke einer halben Hundertschaft. "Da haben wir oben aus den Fenstern ziemlich Alarm gemacht und die mit Farbbeuteln beworfen", gibt Holtappels zu. Aber dann, eines Tages im Mai 1981, blieben die Polizeikräfte nicht draußen stehen, sondern stürmten den Laden. "Die haben uns im Schlaf überrumpelt", sagt Holtappes. Ende der Geschichte. "Drusus 80" ist heute ein Wohnhaus, "schick und sicher teuer". Genau das, was damals befürchtet worden war.

Der Werbekaufmann, Firmeninhaber und Familienvater hat aus dieser wilden Hausbesetzerzeit seine Vorliebe für Schuhe von Doc Martens und - wie er selbst sagt - langweiliges, schwarzes Outfit behalten. "Das ist ein Loop, aus dem ich wohl nicht mehr herauskomme, hat aber nicht mehr viel mit Einstellung zu tun", sagt Holtappels. Ihm scheint anderes in der Rückschau wichtiger: "Ich habe in der Zeit sehr viel über Menschen gelernt - und bin durch den damals zugelaufenen ,Straßenköter Pogo' zum absoluten Hundefreund geworden."

(-nau)
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