Jens Metzdorf "Neuss ist ein rheinischer Mikrokosmos"

Neuss · Herr Metzdorf, wir haben uns unter der Rotbuche am Kirchhof der Christuskirche getroffen. Warum ist das für Sie ein besonderer Ort?

 Jens Metzdorf leitet seit 2002 das Neusser Stadtarchiv und sichert so das kulturelle Erbe für folgende Generationen. Sein Lieblingsort in Neuss ist die Rotbuche an der Christuskirche.

Jens Metzdorf leitet seit 2002 das Neusser Stadtarchiv und sichert so das kulturelle Erbe für folgende Generationen. Sein Lieblingsort in Neuss ist die Rotbuche an der Christuskirche.

Foto: Andreas Woitschützke

Herr Metzdorf, wir haben uns unter der Rotbuche am Kirchhof der Christuskirche getroffen. Warum ist das für Sie ein besonderer Ort?

Jens Metzdorf Für mich ist hier ein besonderer Ruhepunkt in der Stadt - durch die Ausstrahlung des Baumes im Schatten der Kirche. Er spendet Ruhe, Erdung und Ausgeglichenheit. Und der Platz liegt im Zentrum meines Wohnviertels und meiner Gemeinde. Ich komme fast täglich vorbei, und meine Kinder haben hier Fahrradfahren gelernt.

Es ist auch ein historisch bedeutsamer Ort.

Metzdorf Das war der alte Friedhof der ersten evangelischen Gemeinde, als diese noch die Marienbergkapelle nutzte. 1906 ist dann dieser architektonisch gelungene Kirchenbau errichtet worden. Er fügt sich wunderbar ins Viertel ein. Und die Glockentöne sind auf das Geläut des Quirinus-Münsters abgestimmt. Das ist tönende Ökumene.

Wie erleben Sie hier Ruhe?

Metzdorf Ich halte gelegentlich an, stelle mich unter den Baum, atme tief durch - das ist wie ein Sauerstoffzelt.

Es gibt einen eigenen Wikipedia-Eintrag zu Ihrer Person. Haben Sie den verfasst?

Metzdorf Zu meiner eigenen Verwunderung habe ich das auch festgestellt. Ich kann aber versichern: Er stammt nicht von mir. Überhaupt habe ich bei Wikipedia noch nie etwas eingetragen. Ich nutze es kritisch und greife durchaus auch auf klassische Lexika zurück.

Stimmt denn alles, was bei Wikipedia über Sie steht?

Metzdorf Der Eintrag ist sehr knapp, da konnte man nicht viel falsch machen.

Wie würden Sie gerne in die Neusser Geschichtsbücher eingehen?

Metzdorf Am liebsten nicht so bald - und dann als passabler Mitmensch und Neusser, der die Türen des Stadtarchivs geöffnet und dem Gemeinwesen gute Dienstleistungen erbracht hat; der mit seinem Team die Zielgruppen erreicht und die Qualität der Angebote weiter entwickelt hat. Der Archivar-Job hat in meinen Augen eine dienende Funktion. Das Stadtarchiv leistet zentrale demokratische Informationsdienste für die Bürger, Verwaltung und Politik. Die Arbeit an der Identität der Stadt ist in die Zukunft gerichtet.

Inwiefern?

Metzdorf Die Sicherung von kulturellem Erbe - analog oder digital -geschieht immer mit dem Blick nach vorne. Wir müssen entscheiden: Was soll für zukünftige Generationen erhalten werden und langfristig benutzbar sein? Die Suche der Menschen nach Identität hat das Ziel, sich für Gegenwart und Zukunft zu positionieren und gute Entscheidungen zu treffen. Zukunft braucht Herkunft, sagt der Philosoph Odo Marquard.

Schreiben Sie selbst noch an dieser Geschichte?

Metzdorf Das bringt die historische Bildungsarbeit erfreulicherweise mit sich. Aber die Zeit des Archivars, der vor allem Stadtgeschichte schreibt, ist vorbei. Meine Hauptaufgabe ist, unsere Informationsdienste effektiv zu organisieren und historische Arbeit zu ermöglichen, indem wir unseren Kunden die Quellen zugänglich machen.

Sie sind gebürtiger Neusser und 2002 vom Staatsarchiv Leipzig zurück in Ihre Heimatstadt gekommen. War das für Sie ein Traum?

Metzdorf Das war eine große Chance, für die ich dankbar bin und die ich versucht habe, zu nutzen. Ein großes, traditionsreiches Archiv zu leiten, verband sich mit meinem Wunsch, kommunale Kulturarbeit zu leisten. Dass es meine Heimatstadt wurde, war ein glücklicher Zufall. So bin ich damals nach 17 Jahren zurückgekommen.

Für einen Historiker ist Neuss doch eine Goldgrube?

Metzdorf Tatsächlich haben wir mit dem Stadtarchiv einen enormen Wissensspeicher wie nicht viele Städte dieser Größe. Dieses "Funktionsgedächtnis" ist ein Teil des Selbstbewusstseins unserer Stadt.

Warum lieben Sie Neuss?

Metzdorf Zuerst wegen der Menschen, die mir hier wichtig sind! Die Stadt habe ich mit meiner Rückkehr erst richtig lieben gelernt. Der Abstand mit Jahren in Münster, London, Mainz und Leipzig war wichtig, er hat den Blick für die Stärke und das Liebenswerte dieser Stadt noch geweitet.

Und das wäre?

Metzdorf Neuss ist ein urbaner rheinischer Mikrokosmos. Hier kommen alle Stärken und Eigenheiten der Region zusammen, und das in der "richtigen Betriebsgröße", wie mein Chef so schön sagt. Das gesellschaftliche Miteinander funktioniert, ich habe alle Möglichkeiten des urbanen Lebens. Dabei ist die Stadt so überschaubar, dass es nie anonym ist. Und an erster Stelle habe ich hier meine Familie, Freunde, meinen Schützenzug und meine Stammkneipe.

Was gefällt Ihnen nicht an Neuss?

Metzdorf Als Stadtmensch muss ich sagen, dass der Denkmalschutz nach dem Zweiten Weltkrieg zu "rheinisch" ausgelegt wurde: ,Wat fott es, es fott!' Zwischen 1950 und 1985 ist in der Innenstadt aus dem Zeitgeist heraus wohl mehr historische Bausubstanz vernichtet worden als in den Bombenangriffen. Die Folgen spüren wir heute: Die Innenstadt hat in Teilen an Gesicht verloren - zum Nachteil von Handel und Tourismus. Stadtbildpflege ist kein sentimentales Hängen an Altem, sondern ein wertvolles Gut.

Was könnten die alten Römer von den heutigen Neussern lernen?

Metzdorf Sowohl Toleranz als auch Friedfertigkeit. Die Römer haben hier ihr Reich abgeschottet, die Neusser sind mit ihrer rheinischen Gelassenheit doch wohl offener. Wir dürfen heute über den Rhein gehen ohne in Lebensgefahr zu geraten.

Und umgekehrt?

Metzdorf Abgesehen von der verbalen Streitkultur im Senat bin ich wenig nostalgisch: Das römische Reich war militaristisch, autokratisch, sozial kaum durchlässig und kriegerisch. Das genügt nicht zum Vorbild.

ANDREAS GRUHN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(NGZ)
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