Neuss Neusser Tanzwochen starten fulminant

Neuss · Gemeinsam mit dem "Nederlands Dans Theater 2" aus Den Haag feierte das Publikum in der Neusser Stadthalle die Eröffnung der Internationalen Tanzwochen. Vor allem "Shutters Shut" von Léon & Lightfoot erntete Applaus.

 "Sara" von Sharon Eyal und Gai Behar aus Israel lenkte die Augen des Publikums auf das Seelenleben des Einzelnen im Kontrast zur Gruppe.

"Sara" von Sharon Eyal und Gai Behar aus Israel lenkte die Augen des Publikums auf das Seelenleben des Einzelnen im Kontrast zur Gruppe.

Foto: Rahi Rezvani

Die Website sprach von einem "Saisonauftakt", doch es war mehr als das. Die vier Stücke, die das "Nederlands Dans Theater 2", das jüngere Ensemble der Compagnie aus Den Haag, zur Eröffnung der Tanzwochen auf die Bühne der Stadthalle brachte, zeigten zeitgenössischen Tanz auf höchstem Niveau.

"I New Then", eine Choreographie des Schweden Johan Inger zu Songs von Van Morrison, warf einen nostalgischen Blick auf die Teenager-Zeit, ein Alter, dem die Tänzer erst seit wenigen Jahren entwachsen sind. In Alltagskleidung sprangen sie über die Bühne, scheinbar ihre Kräfte messend, rangelten miteinander und tanzten ausgelassen. Doch nicht nur das erlebte man mit. Ebenso die aufkeimende erste Liebe, Zweifel, Verunsicherung und Eifersucht.

Auch "Sara" von Sharon Eyal und Gai Behar aus Israel lenkte die Augen des Publikums auf das Seelenleben des Einzelnen im Kontrast zur Gruppe, allerdings in eine ferne Zukunft versetzt. Bei der elektronischen Musik dachte man an "Kraftwerk", bei den hautfarbenen Bodystockings an die Außerirdischen in Nicolas Roegs Science-Fiction-Film "Der Mann, der vom Himmel fiel".

"LiNK", die brandneue Choreographie der Geschwister Imre und Marne van Opstal, beleuchtet die Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Während auf einen Würfel eine Sequenz aus dem Charlie-Chaplin-Film "Modern Times" projiziert wurde, die das Scheitern eines Fütterungsautomaten für Fabrikarbeiter zeigt, führten die Tänzer dem Publikum vor Augen, wie der Mensch durch die Arbeit am Fließband zur Maschine wird. Es ging um Aktivität und Passivität - und um die Frage, wer hier wen steuert.

Höhepunkt des Abends - das war am Applaus deutliche abzulesen - war "Shutters Shut" von Léon & Lightfoot, die in 25 Jahren 50 Choreographien für das NDT geschaffen haben. Dass dieses Stück so fasziniert, ist umso verblüffender, weil es mit elf Jahren das älteste ist, mit vier Minuten Dauer das kürzeste und weil es mit nur zwei Tänzern auskommt, von denen der männliche Part verletzungsbedingt auch noch hatte ausgewechselt werden müssen. So kam es, dass Imre van Opstal nun mit Fernando Troya statt mit Spencer Dickhaus auf der Bühne stand.

Van Opstal und Troya tanzten nicht zu Musik, sondern zu einer Originalaufnahme von Gertrude Stein, die ihr Gedicht "If I told him: A completed Portrait of Picasso" rezitiert. Wie die "geistige Mutter des Modernismus" in ihrem sprachlichen Picasso-Porträt die Brüche, Kanten und Ecken des Kubismus durch Wiederholungen und Variationen in Worte übersetzt, so übertrugen die Tänzer den zungenbrecherischen Text in abstrakte Bewegungen und Gesten, die - in rasantem Tempo dem Rhythmus und der Melodie der Sprache folgend - ebenfalls wiederholt und variiert wurden. Es schien so, als spreche die Dichterin durch die Körper der Tänzer, die - von der hämmernden Sprache hypnotisiert - das Stakkato der Silben durch ihre Glieder laufenließen. Der tosende Applaus verriet den geheimen Wunsch des Publikums: Nach diesen großartigen vier Minuten hätte man auf eine imaginäre Repeat-Taste drücken wollen, um das Ganze noch einmal zu sehen und jede einzelne Facette dieser multiperspektivischen Tanzskulptur noch einmal genau zu betrachten. Brillant und auch nach elf Jahren noch aufregend modern. Darin zeigt sich große Kunst!

(stei)
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