Neuss Quinheim - das Neusser Atlantis

Neuss · Die Stadtgeschichte gibt immer wieder Rätsel auf. Manche lassen sich auch nach Jahrhunderten nicht lösen, sagt der Stadtarchivar.

 Als 1586 die Karten von Franz Hogenberg entstanden, hatte der Rhein schon seinen Verlauf nach Osten verlegt. Dabei spülte er das legendäre Quinheim von der Landkarte. Lag der Ort wirklich bei Grimlinghausen?

Als 1586 die Karten von Franz Hogenberg entstanden, hatte der Rhein schon seinen Verlauf nach Osten verlegt. Dabei spülte er das legendäre Quinheim von der Landkarte. Lag der Ort wirklich bei Grimlinghausen?

Foto: Stadtarchiv Neuss

Wo, bitteschön, liegt Quinheim? Keine Karte dieser Welt verzeichnet diesen Ort, der 1116 erstmals urkundlich erwähnt wird und im 13. oder 14. Jahrhundert untergegangen ist. Er wurde wohl von der Landkarte und damit aus der Geschichte gespült, als sich der Rhein im Mittelalter von den Neusser Stadtmauern zurückzog und sein Bett nach Osten verlagerte. Wie das legendäre Atlantis ist Quinheims genaue Lage heute unbekannt. Stadtarchivar Jens Metzdorf vermutet Quinheim aufgrund einer Erwähnung aus dem Jahr 1417 in der Nähe von Grimlinghausen. Aber Gewissheit hat er nicht. Das versunkene Dorf bleibt eines der großen Rätsel in der Historie der Stadt.

Wissenschaftler wie Rudolf Strasser, der mit seiner Doktorarbeit "Die Veränderung des Rheinstroms in historischer Zeit" auch diesem Phantom nachjagt, hat Quinheim interessiert. Gerd Schwager erwähnt den legendären Ort vor allem im Zusammenhang mit einer anderen Legende: "Der lange Schatten des Nibelungenliedes" hat der Neusser Autor sein gerade erschienenes Buch betitelt, in dem er Quinheim (oder Quenheim) als Vorläufersiedlung von Grimlinghausen annimmt und die Frage stellt: "Lebte hier die sagenhafte Grimhild?" - und meint damit Siegfrieds Gattin Krimhild.

Sagenhaftes und Historisches vermischen sich auch an anderer Stelle und machen Rätsel der Stadtgeschichte zum Stoff für Buchautoren. Frank Kurella zum Beispiel siedelte seinen Roman "Das Pergament des Todes" im Neuss des Jahres 1284 an. Jenem Jahr, in dem der Hochstapler Tile Kolup, der im Juli 1285 in der Reichsstadt Wetzlar verbrannt wurde, als Kaiser Friedrich II. in Neuss Hof hielt und einige Monate lang alle Privilegien eines Monarchen genoss. In den Stadtchroniken ist Kolup nur vage erwähnt. "Wir haben nichts über ihn im Archiv", sagt der Historiker Metzdorf, der deswegen nur mutmaßen kann, warum die Neusser dieses Spiel so lange mitmachten. "In Zeiten politischer Umbrüche gab es ja immer Leute, die sich für etwas ausgaben", sagt er. Und der - damals schon seit 34 Jahren tote - Stauferkaiser Friedrich stand immerhin für Sicherheit. Ob der falsche "Neusser Kaiser" Urkunden ausgestellt hat, das wüsste und die hätte er gerne, sagt Metzdorf. Aber immerhin: Urkunden von echten Kaisern kann er vorlegen - und die seien auch echt.

Mindestens genauso gerne hätte Metzdorf einen jener Zettel, den das kaiserliche Entsatzheer mit hohlen Kanonenkugeln in die vom Heer des Burgunderherzogs Karl der Kühne belagerte Stadt Neuss schoss. Den Text überliefert der Stadtschreiber Christian Wierstraet in seiner Belagerungs-Chronik unter dem 21. April 1475: "Neuss sei zuversichtlich, in Kurzem sollst du froh und frei sein". Aber stimmt das im Detail? Für Metzdorf ist die geschilderte Szene fast zu schön, um echt zu sein. "Eigentlich war Neuss am Ende. Eine letzte Prozession zur Kapelle am Obertor wurde noch gemacht, da schlug die gute Nachricht regelrecht ein und verhindert so eine sich abzeichnende Revolte", fasst Metzdorf den Bericht zusammen. Eine tolle Geschichte, fast filmreif - aber auch rätselhaft.

Legendenumrankt ist die Gründungs des Quirinusklosters, ungeklärt auch die Frage, wie der Stadtpatron St. Quirin zu den neun Kugeln in seinem Wappen kam. Kugeln, Münzen, Mühlsteine - viel wurde in diesem Attribut schon erkannt und interpretiert, doch Metzdorf tendiert zu einer einfachen als der wahrscheinlichsten These: Die Kugeln sind ein Zeichen für die Zahl neun (lateinisch: novem), die sich im Stadtnamen Novesia wiederfindet. "Die Zahl wurde auf den Heiligen übertragen, um ihn so klar der Stadt zuzuordnen. Denn es gab ja mehrere Quirinusse", sagt er. Das Wissen um die eigentliche Bedeutung dieses Neun-Zeichens sei allerdings verloren gegangen.

Die Frage nach den "Kugeln des Quirinus" gehört zu den Top-Rätseln, die Neusser auf der Suche nach einer Lösung ins Stadtarchiv treiben. Seltsamerweise werde genauso oft nach der Bedeutung des "Mokkaloch" am ehemaligen Finanzamt Schillerstraße gefragt, sagt Metzdorf. Die Bedeutung ist unklar doch Theorien gibt es zuhauf. Zwei hat Metzdorf sofort auf der Pfanne: "Einige erklären den Namen mit dunkelhäutigen belgischen Besatzungssoldaten, die dort stationiert waren", sagt Metzdorf, andere leiten den Namen von dort gehaltenen Ziegen ab. Sehen deren Hinterlassenschaften nicht wie Kaffeebohnen, also wie Mokka aus?

"Der Rheinländer weiß halt viel - zu erzählen", sagt Metzdorf. In diese Geschichten zur Stadtgeschichte fügen sich ganz gut die oft als Tatsachenbericht daherkommenden Mutmaßungen über das Tunnelsystem unter dem mittelalterlichen Neuss. Oft werde der angebliche Wahrheitsgehalt mit Sätzen unterstrichen wie "Mein Vater hat erzählt, dass man unterirdisch von Haus zu Haus gehen kann", sagt Metzdorf, für den sich hier Wahrheit und Legenden mischen. "Die mittelalterlichen Keller, das System der historischen Entwässerungskanäle und die Durchbrüche, die im Zweiten Weltkrieg aus Gründen des Luftschutzes zwischen den Häusern gebrochen werden mussten - all das mischt sich zu einem faszinierenden Tunnelsystem", sagt Metzdorf, der oft von Fluchttunneln hört, die vom Rathaus zum Quirinusmünster und von dort zum Rhein führen sollen. "Die Archäologie ist zum Glück in der Lage, uns von den wirrsten Theorien zu befreien", sagt er. Zumindest dieses Rätsel scheint gelöst.

(-nau)
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