Neuss Raus aus dem Schmuckkästchen

Neuss · Ein Besuch im Staatstheater Cottbus und der Aufführung von "Kasimir und Karoline": Die designierte Intendantin des Rheinischen Landestheaters, Bettina Jahnke, verlässt für ihren neuen Job eine wunderschöne Bühne.

 Sie haben keine Zukunft: „Kasimir und Karoline“ in der Inszenierung von Bettina Jahnke am Staatstheater Cottbus.

Sie haben keine Zukunft: „Kasimir und Karoline“ in der Inszenierung von Bettina Jahnke am Staatstheater Cottbus.

Foto: NGZ

Cottbus/Neuss Der erste Eindruck ist zwiespältig: Das soll das schönste Jugendstil-Theater Deutschlands sein? Von außen wirkt das Staatstheater Cottbus wie eine Trutzburg, mit einem hübschen Portal zwar, aber irgendwie auch recht nackt auf freiem Gelände thronend.

 In drei Schritten ist das 1907 erbaute Staatstheater Cottbus - links der Zuschauerraum von der Bühne aus betrachtet und rechts das Kuppelfoyer mit der Venusstatue in der Mitte - über insgesamt mehr als 25 Jahre restauriert worden.

In drei Schritten ist das 1907 erbaute Staatstheater Cottbus - links der Zuschauerraum von der Bühne aus betrachtet und rechts das Kuppelfoyer mit der Venusstatue in der Mitte - über insgesamt mehr als 25 Jahre restauriert worden.

Foto: NGZ

Erst der Rundgang offenbart: Hier sitzen Putti auf einem Sims, dort hockt eine Skulptur auf einem Mauervorsprung, und hinter dem Gebäude öffnet ein schön angelegter Park den Blick ins Grüne. Und die Adresse passt sowieso - das Theater liegt am Schillerplatz.

Neuss: Raus aus dem Schmuckkästchen
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Seit 100 Jahren steht es da, und seit vier Jahren ist Bettina Jahnke in dem Dreisparten-Haus als Oberspielleiterin für das Schauspiel zuständig.

Schon bevor die 44-Jährige wusste, dass sie zu Beginn der Saison 2009/10 die Intendanz des Rheinischen Landestheaters übernimmt, hatte sie ihren Job in Cottbus gekündigt und sich darauf eingestellt, als freie Regisseurin zu arbeiten. Diesen Schritt erklärt sie vor allem mit inhaltlichen Gründen - an den äußeren Arbeitsbedingungen kann es auch kaum liegen.

Denn innen entpuppt sich das Staatstheater als wahres Schmuckkästchen. Ebenso liebe- wie geschmackvoll wurde das Haus gerade erst renoviert und vor acht Monaten wieder in Betrieb genommen. Bernhard Sehring hat das Theater für Oper, Ballett und Schauspiel 1907 entworfen.

Im Zweiten Weltkrieg blieb das Gebäude von großen Schäden verschont, so dass es nach insgesamt drei Restaurierungen (die erste von 1981 bis '86 war die umfangreichste) als das Theater in Deutschland gilt, das die größte Originalsubstanz aus dem Jugendstil hat.

Über dem zentralen Foyer erhebt sich ein Traum von einerJugendstil-Kuppel mit einem strahlenumkränzten Lyrarelief in der Mitte. Auf dem Boden gruppieren sich um Venus auf einem Sockel die Musen herum.

Goldgerahmte Spiegel, Büsten von Goethe und Schiller auf Marmorsäulen, kunstvolle Bleiglasfenster in den Balkontüren, Handläufe aus Messing an den Treppen, ein königsroten Teppich auf dem Boden, kleine Sitzgruppen mit zierlichen Stühlen und Tischen, bequeme und zugleich stilvolle, mit rotem, samtartigen Stoff bezogene Sessel in den Logen und im Parkett des Zuschauerraumes - dieses Haus verlässt ein Künstler freiwillig?

"Ach", sagt Bettina Jahnke lachend, " wenn man hier ständig ein- und ausgeht, nimmt man den Zauber gar nicht mehr wahr. Es ist einfach normal." Erst jetzt, so schränkt sie ein, wo sie andauernd zwischen Neuss und Cottbus hin- und herpendele, falle ihr wieder auf, wie beeindruckend das Theater sei.

Und damit meint sie nicht nur das Äußere. Die Drehbühne, die Obermaschinerie mit vielen Zügen für Prospekte (Bühnenhintergrund in einer Inszenierung), der Orchestergraben - da kann ein Regisseur aus dem Vollen schöpfen, und Bettina Jahnke weiß sehr genau, dass die technische Ausstattung des RLT die Möglichkeiten einschränkt: "Das sind Dinge, die es dort nicht gibt."

Was sie indes nicht schreckt, sondern nur herausfordert: "Im RLT gibt es andere Möglichkeiten. Ich glaube, die sind nur noch nicht ausgeschöpft worden." Umdenken sei angesagt, sie werde mit den Mittel des Theatralischen arbeiten. "Back to the Roots" lautet ihr Credo, und sie weiß sich dabei in prominenter Gesellschaft.

Peter Brook schaffe es schließlich auch, mit ganz wenigen Mitteln die Vorstellungskraft des Zuschauers wecken: "Ein Meer muss nicht als aufwendiges Bühnenbild wogen."

Dass sie als Regisseurin durchaus auch zurückhaltend agiert, zeigt ihre jüngste Inszenierung in Cottbus. "Kasimir und Karoline" von Ödön von Horváth.

Das Stück spielt auf dem Oktoberfest in München, wird aber von Jahnke dort nicht verortet. Was soll das Oktoberfest in Cottbus? habe sie sich gefragt und dann entschlossen, sich an Horváths eigene Bedingungen zu halten: kein Naturalismus, kein Dialekt.

So vermittelt das Bild in der Kammerbühne, der zweiten Spielstätte des Staatstheaters, einen Platz irgendwo zwischen Mauern und Zäunen. Ein Bild von Roy Liechtenstein aus der "Kuss"-Serie zieht sich in immer neuen Details über die Wände, ein paar weiße Gartenstühle und eine Bank aus Plastik - das ist alles. Der Zeppelin, der den Streit und damit das Fiasko zwischen Kasimir und Karoline auslöst, ist eine rotierende Discokugel.

Das Oktoberfest als Ort der Sehnsucht. Wo Menschen mit den unterschiedlichsten Zielen zusammentreffen und auf neue, alles versprechende Begegnungen hoffen. Aber Kasimir ist gerade arbeitslos geworden, und Karoline mag nicht daran denken.

Sie will sich amüsieren, verlässt ihn, der ihr zu miesepetrig ist, und wendet sich ostentativ einem anderen zu. Jeder Versuch, wieder zusammenzukommen, scheitert an der Unfähigkeit, dem anderen die eigenen Gefühle zu offenbaren.

Jahnke startet verhalten in die Geschichte, und vor der Pause scheint die Aufführung nur so dahin zu plätschern. Welchen Sinn das macht, wird erst im zweiten Teil deutlich.

Das Drama um das nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander könnende Pärchen entfaltet eine emotionale Kraft, die alles hinwegfegt, was man zuvor geargwöhnt hat. Dass die Figuren die Regisseurin als Menschen gar nicht interessieren. Oder dass ihr der Zugang fehlte.

Nein, sie arbeitet heraus, was das Stück von Horváth zu einem hochaktuellen macht: das Leiden an der Arbeitslosigkeit, die Gleichgültigkeit des Einzelnen; die alle Hoffnung vernichtende Sprachlosigkeit; der Traum, das Leben ändern zu können, wenn man es nur will.

Nicht von ungefähr kommt daher auch der Gedanke, das Stück einmal in Neuss zu spielen: "Es passt zu unserem Motto ,träumen'", sagt Bettina Jahnke nachdenklich. Dann sollte sie vielleicht auch das Duo "Musette Brachiale" engagieren. Zusammen mit Hans Petih hat es die Aufführung musikalisch kongenial begleitet.

(NGZ)
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