Neuss Reuschenbergs vergessene Straßennamen

Neuss · Waren früher Nationalsozialisten Namensgeber der Gassen und Wege, sind es heute unter anderem Blumen und Vögel.

 Dieses Schwarz-Weiß-Foto zeigt einige der ersten Siedlungshäuser an der Finkenstraße.

Dieses Schwarz-Weiß-Foto zeigt einige der ersten Siedlungshäuser an der Finkenstraße.

Foto: Heimatverein Reuschenberg

Der Paketbote, der täglich in seinem Reuschenberger Revier unterwegs ist, ist begeistert über die Zuordnung der Straßennamen im südlichen Neusser Ortsteil: "Wenn ich auf der Rosenstraße unterwegs bin, muss ich nicht lange nach der Veilchenstraße suchen. Oder nach der Lilienstraße. Alles liegt praktisch in einem Bezirk. Als Vogelfreund fahre ich auch gern durch Drossel- und Finkenstraße." Das geht dem nicht immer ortskundigen Zusteller genauso auf der anderen Seite der quer durch den Ort führenden Bergheimer Straße im Bereich Birken-, Lorbeer- und Mohnstraße. Dass diese Straßen früher andere Namen trugen, hängt auch mit der Besiedlungsgeschichte von Reuschenberg zusammen.

Wie eine Neusser Flurkarte von 1811 ausweist, ist der Stadtteil im Wesentlichen auf dem Gebiet des Jahrhunderte alten Niederhofes (Nierenhof) gewachsen. Eine Verkehrsverbindung bestand - von unbefestigten Wegen abgesehen - praktisch nur über die 1841 ausgebaute Straße von Reuschenberg nach Holzheim, zur Stadt und Richtung Rommerskirchen.

Wo heute die Straße "An der Barriere" auf die Bergheimer Straße stößt, entstand 1932 um diesen Schlagbaum herum eine erste kleine Siedlung, heute Drossel-, Finken- und Lerchenstraße, mit 23 Siedlerstellen. Wie der bereits gestorbene Theo Bongartz in seinem Buch "Lev Rüscheberg" schrieb, "hatten die Straßen zu dieser Zeit nur eine feine Sandoberschicht. Samstags war Fegen angesagt. Eine Schmutzwasser-Kanalisation war nicht vorhanden. Der berühmte Goldene Eimer war groß in Mode. Viele Gartenfreunde freuten sich über den kostenlosen Dünger." Eine Straßenbezeichnung lohnte sich offensichtlich noch nicht.

1936 wuchs die geplante "Gartenvorstadt am Reuschenberg" im Bereich der heutigen Veilchenstraße zunächst um 350 kleine Siedlungshäuser. Die einheitliche Bebauung bestand aus Wohnräumen, Waschküche, Stall, Futterboden und Kellerräumen. Die Philosophie dabei: "der werktätigen Bevölkerung nicht nur eine Unterkunft zu bieten, sondern durch eine Verpflichtung einer Kleintierhaltung und Gartenbewirtschaftung eine Ergänzung des Einkommens zu gewährleisten." Westliche und östliche Bereiche wurden besiedelt - mit verschiedenen Bautypen, später mit Eigenheimen.

Ein Prüfungsausschuss hatte über die Zuteilung zu befinden: "Ein Siedler muss ein wertvoller Volksgenosse sein, der mit ganzem Herzen hinter dem Führer und seiner Weltanschauung steht." In diesem Sinne erhielten die Straßen gemäß der nationalsozialistischen Ideologie Namen der Helden des Marsches auf die Feldherrnhalle oder Militärs aus dem Ersten Weltkrieg. Zum Teil Namen von Personen, die niemand kannte. Wie die Kurt-Hilmer- oder Karl-Pass-Straße. Zur nationalsozialistischen Mustersiedlung sollten bald ein Gemeinschaftshaus, ein Aufmarschplatz sowie Parteigebäude gehören. Kirchen waren nicht vorgesehen.

Am Ende des Krieges war der Spuk vorbei, schreibt Theo Bongartz in seinen Erinnerungen. Zur Entnazifizierung durch die Besatzungsmächte gehörte die sofortige Umbenennung der bisherigen ideologisch geprägten Straßennamen - es entstanden ganze Viertel mit Namen von Zierblumen wie Lilien- und Narzissenstraße, von Nutz- und Arzneipflanzen wie Aurin- und Eibischstraße; nach Vögeln wie Finken- und Drosselstraße. Doch es gibt auch Ausnahmen: Calvin- und Lutherstraße und andere sind dem wachsenden evangelischen Einfluss geschuldet; die Nierenhofstraße erinnert an den früheren Nierenhof, der Hemsfurther Weg an eine Furth an der Erft, der Linnéplatz an den Botaniker Carl von Linné und der Blausteinsweg an mittelalterliche Grenzpfähle aus ebensolchem bläulichen Basalt.

Für den emeritierten Professor Werner Joel, der sich ausgiebig mit der Neusser Geschichte beschäftigt, sind diese Namen, die Parallelen haben in Neuss, mehr als nur eine Adresse, sondern ein Lebensgefühl und Heimatverbundenheit. Und wie schon der Paketbote feststellte - ganz schön praktisch.

(NGZ)
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