Kommissar Matthias Latour untersucht Tötungsdelikte Sein erster ungelöster Fall lässt ihn nicht los

Das Ende kam nicht überraschend. Lange schon hatte sich in der Mordkommission die Befürchtung breit gemacht, dass keine der immer spärlicher werdenden Spuren zum Mörder an der Postbotin Rita Solinas aus Weckhoven führen würde. "Man will den Täter haben. Dazu nimmt man alle Einschränkungen in Kauf, will an Grenzen gehen", schildert Matthias Latour die verbreitete Haltung der Mitglieder einer Mordkommission. Seit Jahren kommt Matthias Latour morgens am Fahndungsaufruf im Fall Solinas vorbei. Sein erster unaufgeklärter Mord in Neuss. NGZ-Foto: A. Woitschützke -->

Das Ende kam nicht überraschend. Lange schon hatte sich in der Mordkommission die Befürchtung breit gemacht, dass keine der immer spärlicher werdenden Spuren zum Mörder an der Postbotin Rita Solinas aus Weckhoven führen würde. "Man will den Täter haben. Dazu nimmt man alle Einschränkungen in Kauf, will an Grenzen gehen", schildert Matthias Latour die verbreitete Haltung der Mitglieder einer Mordkommission. Seit Jahren kommt Matthias Latour morgens am Fahndungsaufruf im Fall Solinas vorbei. Sein erster unaufgeklärter Mord in Neuss. NGZ-Foto: A. Woitschützke -->

Doch all das reichte im Fall Solinas nicht aus. Als im Februar 1994 die Akte nach fast fünfmonatigen Ermittlungen geschlossen wurde, war auch für den Neusser Kriminalhauptkommissar der Frust groß. "Wahnsinnig enttäuscht", sei er gewesen, sagt Latour. Die "Tote im Maisfeld" - sie ist sein erster nicht aufgeklärter Mord. Es gibt Polizeibeamte in Neuss, die haben jeden einzelnen Toten vor Augen, mit denen sie im Laufe ihres Berufslebens zu tun haben. Matthias Latour (41) gehört - von Ausnahmen abgesehen - nicht dazu. Es sind zu viele. 240 Fälle in Neuss allein im letzten Jahr zählt die Statistik, zu denen Latour oder einer seiner Kollegen vom Kriminalkommissariat 11 eingeschaltet werden mussten.

Das passiert immer dann, wenn die Todesursache unbekannt ist oder der Arzt eine unnatürliche Todesart nicht glatt verneinen kann. "Wir versuchen auszuschließen, dass ein anderer den Tod verursacht hat", definiert Latour. Dazu muss er den toten Körper untersuchen. Kein einfacher Job, an den sich der Kommissar nur schwer gewöhnen konnte. "Ich hatte zu viel mit mir zu tun," beschreibt er Situationen, in denen auch einiges von außen auf ihn einstürmte: Gerüche, Bilder, trauernde Angehörige. Mit der Situation am Ort eines Gewaltverbrechens sei das trotzdem nicht vergleichbar. "Kollegen, die den Tatort untersuchen, müssen psychisch mit dem Tod klar kommen. Die sind manchmal Stunden mit dem Toten allein."

Im Fall Solinas blieb ihm, der keine Todesermittlung gerne macht, dieses erspart. Die Bluttat im Oktober 1993 war dem Beamten, der damals erst seit einigen Monaten Tötungsdelikte zu klären hatte, früh auf den Schreibtisch gekommen. "Als Vermisstensache", erinnert er sich an ein Detail. "Es gibt Fälle, da kribbelt es schon früh im Bauch." Dieser war ein solcher, wie er bald bemerkte. Denn nachdem er einige Angehörige befragt hatte, stand fest: Das Ausbleiben der damals 43-Jährigen passte nicht zu ihr. Das Gefühl wurde zwei Tage später Gewissheit. Latour, an jenem Montag gerade zuhause angekommen, wurde ins Kommissariat zurückbeordert.

Die Vermisste war ermordet aufgefunden worden, von einem Verdächtigen keine Spur. Wie in solchen Fällen üblich, wurde unter Leitung eines Beamten aus dem Düsseldorfer Polizeipräsidium eine Mordkommission zusammengesetzt. Latour mit seinem Kenntnisstand war dabei. Er vernahm noch am gleichen Abend Ehemann und Schwester der Toten. Bis dahin Routine. Was folgte, war ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn die ersten Tage sind bei Gewaltdelikten entscheidend. Knapp drei Wochen blieb die etwa 30-köpfige Kommission fast ununterbrochen zusammen; manchmal bis zu 15 Stunden täglich. Latour: "Man lebt nur noch mit und in einem Sachverhalt, hat laufend Lagebesprechungen." Dann wurden freie Wochenende möglich. Kein gutes Zeichen, denn der Erfolg war bis dahin ausgeblieben, und man richtete sich auf einen längeren Zeitraum ein.

Befragungen auch rund um den Tatort, Untersuchungsergebnisse, die nach und nach aus den Labors des Landeskriminalamtes und anderer Stellen eingingen, jede Menge anderer Spuren, die von den Beamten "abgearbeitet" wurden: Sie alle führten zu keinem greifbaren Ergebnis. "Es gab Hinweise, die haben uns regelrecht euphorisch gemacht", erinnert sich Matthias Latour. "Doch wenn sich eine Spur zerschlägt, zerbricht eine Welt." So blieb es bis zuletzt, trotz "Aktenzeichen XY", trotz Rasterfahndung in Straftäterkarteien, trotz Suche nach Parallelfällen. Als die Staatsanwaltschaft die Akte schloss, war für Latour der schlimmste Fall eingetreten.

Obwohl seiner Einschätzung nach versucht worden war, was menschenmöglich ist. "Eine Tötung nimmt man immer mit", weiß er heute. Ist in Zeitungen von Mord die Rede, sucht er nach Gemeinsamkeiten zu Fällen in Neuss, von denen es seit 1983 sechs im Stadtgebiet gibt. Latour weiß: Andere machen es ebenso. Und obwohl die Kommission Solinas nie wieder aufleben konnte, hat er die Hoffnung, dass der Täter gefunden wird, nicht aufgegeben. "Jede Spur wird der Neuzeit angeglichen", begründet er dies mit Blick auf neue Methoden wie DNA-Analyse oder die Konstruktion von Täterprofilen. "Ansätze für neue Ermittlungen gibt es oft auch nach Jahren noch." Und Mord verjährt nicht. Christoph Kleinau

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