Neuss Streicherklang zwischen elegisch und flirrend

Neuss · Das 5. Abokonzert der Deutsche Kammerakademie Neuss (DKN) brachte im gut besuchten Zeughaus die Begegnung mit zwei im internationalen Musikleben hoch angesehenen Frauen. Erstmals leitete die estnische Dirigentin Anu Tali (45) die DKN. Als eine der faszinierendsten Dirigentin der aktuellen Musikszene ist sie im Moment Music Director des Sarasota Orchestra in Florida. Dort läuft ihr Vertrag im nächsten Jahr aus: Warum also nicht als Gastdirigent in Neuss neue Wege gehen und ein Top-Orchester kennen lernen?

Mit Samuel Barbers "Adagio for strings" konnte sie schnell das Neusser Publikum gewinnen. Sie leitete mit großer Geste sehr präzise und doch elegant. Die Trauermusik, die bei den Beerdigungen von John F. Kennedy und Grace Kelly weltbekannt wurde, interpretierte sie ganz im Geiste Barbers, der seine Musik von 1936 gut dreißig Jahre später mit einem achtstimmigen "Agnus Dei" unterlegte und dadurch "die sakrale Klangaura unterstrich", wie Matthias Corvin in seiner beliebten Konzerteinführung betonte.

Die serbische Pianistin Tamara Stefanovich (45), ebenfalls erstmals in Neuss, tritt regelmäßig in den renommiertesten Konzertsälen der Welt auf. Ihr Neusser Debut galt dem "Thema mit vier Variationen" (die vier Temperamente darstellend) für Klavier und Streichorchester von Paul Hindemith. Das Werk des deutschen Komponisten mit amerikanischem Pass entstand kurz nach seiner Emigration in die USA 1940. Ursprünglich als Ballettmusik gedacht und auch vom "New York City Ballet" ins Repertoire aufgenommen, entspricht das Werk vollendet Hindemiths Auffassung von absoluter Musik. Schon die erste Variation (Der Melancholiker) stürzt sich mit vollen Klavierakkorden auf das Thema, zart von gedämpfter Solovioline begleitet.

Die spielte einfühlsam DKN-Konzertmeisterin Fenella Humphreys, die am Rande des Konzertes ihre CD "Bach to the Future" vorstellte, für die sie gerade den "BBC Music Magazine Award 2018" erhalten hatte. Den schweren Klavierpart spielte Tamara Stefanovich mit makellosem Geschick und permanenter Klangkontrolle. Auch sie versprühte Eleganz in ihrem Spiel und bei der Beachtung des gleichwertigen Orchesterparts. Nun hieß das Motto des Konzertes "Amerika meets Baltikum". Dazu hatte die "Maestra Baltica" Anu Tali mit "Elegies of Thule" und "Action - Passion - Illusion" zwei Werke von Tönu Körvits (49) und Erkki-Sven Tüür (59) mitgebracht. Beide zählen zu den größten Hoffnungsträgern der estnischen Komponistenszene und schaffen faszinierende Klangbilder für Streicher: mal elegisch, mal flirrend, in den schönsten Momenten beides vermischend. Erkki-Sven Tüür fordert zudem spannungsgeladene Polyrhythmik, die von der DKN glänzend beherrscht wurde.

(NGZ)
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