Neuss Tanztheater aus Frankreich erzählt von fremden Kulturen

Neuss · Ein treffenderer Beginn der Neusser Internationalen Tanzwochen ist nur schwer vorstellbar. Die französische Compagnie Hervé Koubi feierte in der Stadthalle ihre Deutschlandpremiere der Choreographie "Les nuits barbares ou les premiers matins du monde" (Die Nächte der Barbaren oder der Morgen, an dem alles begann). Es geht um eine Erforschung der gemeinsamen Kulturen des Mittelmeerraums. Das 75-minütige Tanztheater ist überwältigend.

 Mit funkelnden Masken verkörpern die Tänzer Menschen, die an den Meeresstrand gespült werden.

Mit funkelnden Masken verkörpern die Tänzer Menschen, die an den Meeresstrand gespült werden.

Foto: Michel Cavalca

Hervé Koubi zeigt mit seinen Tänzern eindrucksvoll, wie sehr die Menschen und Kulturen des Mittelmeerraums zusammenhängen. Den Beginn machen die dreizehn Tänzer mit der Suche nach Bodenhaftung. Ein Gewimmel und Gewusel, ähnlich den schaumbildenden Wogen an den Gestaden, spült sie aufs Festland. Im Morgenlicht funkeln ihre Köpfe wie Diamanten. Und das sind sie auch. An ihren Helmen blitzen Kristalle aus Swarowski-Glas. Ein merkwürdiger Zauber umgibt diesen Körperhaufen. Dann sind die Menschen angekommen, irgendwo an der Nordküste Afrikas, und sofort ergeben sie sich einem neuen Rhythmus. Unter Trommelwirbel und schriller Flötenmusik nimmt der Orient sie in seinen Bann. Mit nacktem Oberkörper und rockartigem Untergewand werden die Männer zu Gauklern. Man kommt sich vor wie auf dem berühmten Dschemaa-el-Fnaa-Platz im marokkanischen Marrakesch. Das Gewusel hat sich jetzt in schier unglaubliche Präzision verwandelt.

In Cannes an der französischen Riviera aufgewachsen und auf den Allerwelts-Namen Hervé getauft, hatte er sich über seine algerische Herkunft lange Zeit keine Gedanken gemacht. "Irgendwann aber zeigte man mir das Foto meines Urgroßvaters, und ich musste dessen Welt kennenlernen", erzählte Koubi dem Publikum. Daraus entstand schließlich seine Zeitreise zu den vergangenen Kulturen der sogenannten barbarischen Völker rund um das Mittelmeer.

Als Denkanreize an das Publikum, ausgehend von den Titel (auch des Vorgänger-Abends "Was die Nacht dem trag verdankt") eigene Assoziationen zu entwickeln, bietet das Bühnengeschehen eine Überfülle an Tanzkunst und Akrobatik. Federgewichten gleich fliegen die muskulösen Körper durch die Luft. Dann nehmen sie ihre Plätze ein in rituellen Kämpfen, und statt der Swarowski-Kristalle blitzen jetzt die Messer. Höhepunkt dieser Szene ist die im Kopfstand dargebotene Dauerpirouette eines einzelnen Tänzers, gegürtet mit herumwirbelnden Dolchen.

Die Zuschauer halten den Atem an und spenden dann erleichtert Applaus. Für Koubi ist das Ganze "ein Requiem des urbanen Lebens und der Wildheit, eine Hymne an das Licht, dem freien Menschen gewidmet." Das Schlussbild seiner Mittelmeer-Choreographie ist dann auch auf andere Weise erschreckend. Eine verlorene, verklebte Masse aus Körpern erinnert an die Schicksale von Menschen, die sich in die Unwägbarkeiten der mittelländischen See begeben, um an fremden Gestaden ein besseres, sichereres Leben zu finden. Großer, lang anhaltender Jubel in der Stadthalle.

(NGZ)
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