Neuss Was alte Scherben vom Leben erzählen

Neuss · Die beiden Archäologen Sabine Sauer von der städtischen Bodenkenkmalpflege und Carl Pause vom Clemens-Sels-Museum sind für die Sicherung und Erforschung historischer Fundstücke aus dem Neusser Stadtgebiet zuständig. Jede kleine Scherbe wird aufbewahrt, denn sie könnte eines Tages neue Erkenntnisse liefern.

Acht Tage hatte Görd Tieves Zeit, um das zu tun, was die Feuerwehr verlangte: Stroh- und Heuballen vom Dachboden zu entfernen, die Kuh aus der Küche zu führen und im Backhaus unterzubringen. Ein Kontrollbesuch hatte ergeben, dass die Familien-Kuh auf ihrem Stroh nur knapp zwei Meter vom Herdfeuer entfernt stand, die Heuballen auf dem Dachboden zu nah am Kamin lagerten und die Feuergefahr somit sehr groß war.

Die Neusser mit Wohnung und Werkstatt im Haus Michaelstraße 9 lebten in jeder Hinsicht in ärmlichen Verhältnissen. Zwei Betten dienten der fünfköpfigen Familie als Schlafstätten, zwei Truhen, zwei Tische und eine fest eingebaute Bank vervollständigten schon das spartanische Mobiliar. Die Tieves' ernährten sich vom Verkauf der Töpferwaren und dem, was sie im Garten hinter dem Haus und auf einem weiteren Stück Land anbauten.

Bei ihnen stand der Brennofen für Tonwaren und Dachpfannen noch im Wohnhaus; erst Görds Nachfahren konnten sich Wohnen und Arbeiten komfortabler einrichten. So beantragte Gottfried Tieves rund 15 Jahre später bei der Stadt Neuss die Erlaubnis, in angemessener Entfernung zu seinem Wohnhaus einen neuen Brennofen zu errichten. Nachbar Johann Weinmeister war ihm mit dieser Auslagerung vorangegangen. Auch er hatte einen Brennofen hinter seinem Wohnhaus errichtet, lag allerdings mit seinem Nachbarn Klein im Streit über den Verlauf einer Grundstücksgrenze und wurde in diesem Zusammenhang gar wegen Beleidigung des Neusser Bürgermeisters vor Gericht gezerrt.

Geschichten, die das Leben schrieb — schon vor mehr als 200 Jahren und nur herausgekommen, weil beim Abriss eines Wohnhauses an der Michaelstraße im Jahre 2001 Mauern freigelegt wurden, die sich zur hellen Freude der Bodendenkmalpflege als Reste eines Brennofens entpuppten. Wie tief die Recherchen über diesen Fund in die Neusser Geschichte führen würde, ahnten damals weder Sabine Sauer, Bodendenkmalpflegerin der Stadt, noch Carl Pause, Archäologe des Clemens-Sels-Museum. "Aber der Fund ist ein schönes Beispiel dafür, wie Archäologie funktioniert", sagt Pause — viele wissenschaftliche Untersuchungen später, in denen sich die Mauerreste als kleine Sensation erwiesen.

Das Bild von der Familie Tieves, von der Töpfermeile Michaelstraße, von den Lebensbedingungen im 18. und 19. Jahrhundert, konnte nur zusammengepuzzelt werden, weil in der Archäologie entscheidend ist, "welche Fragen selbst an die kleinste Scherbe gestellt werden", wie Pause es formuliert. Scherbe ist dabei ein gutes Stichwort, denn weil eben solche rund um die Mauerreste auch ausgegraben wurden, deutete alles auf einen Töpferofen hin: "Sonst hätte es auch ein simpler Backofen sein können."

Recherchen im Stadtarchiv brachten nämlich den Antrag für den Bau eines "pfannen-ofen" von Gottfried Tieves von 1786 zutage — heute gilt der Ofen als der "einzig genau datierte in der ganzen Region" (Pause). Der Fund des Brennofens warf sogar bis dato angenommene historische Fakten über den Haufen: dass nämlich feuergefährliche Werkstätten nur außerhalb der Stadtmauern zugelassen waren. Außerdem zog er Kreise außerhalb von Neuss, wurde auf einem Symposium für Archäologen präsentiert und führte zu einer Veröffentlichung des Wissenschaftlers Andreas Heege in den Basler Heften zur Archäologie.

Und der Neusser? Was hatte er davon? Die Mauerreste verschwanden nämlich wieder in der Erde, sind heute nicht einmal mehr zu erahnen. Aber Pause hatte genug Stoff zusammengetragen, um damit eine Ausstellung zu bestücken: "Töpfer, Teller, Traditionen" hieß sie und blätterte 2004 im Clemens-Sels-Museum die ganze (neue) Geschichte der Neusser Töpferei-Wirtschaft und ihre Folgen auf. Ein geradezu idealtypischer Verlauf von der ersten Ausgrabung bis hin zur optimalen Erkenntnis-Verwertung — nur läuft das keineswegs immer so ab. Manches Fundstück landet auf Jahre im Depot — bis sich in der Verbindung mit anderen neue Zusammenhänge ergeben.

Als erste ist Sabine Sauer zur Stelle, wenn irgendwo in Neuss in der Erde gebuddelt wird. Die ist nämlich immer gut für Funde aus der Römerzeit oder auch dem Mittelalter, "und manchmal", sagt Sabine Sauer, "ist der Wert eines Fundes bei der Grabung noch gar nicht erkennbar." Aber deswegen wird nichts aussortiert, sondern alles gewaschen, inventarisiert und aufbewahrt. Das meiste im Alten Rathaus in Norf, wo die Bodendenkmalpflege auch ihren Sitz an. Entsprechend sieht es in kaum einem Büro aus, wie man es sich vorstellt. Natürlich gibt es Schreibtisch und Computer, Aktenordner und Regale, aber auch jede Menge schlichter Plastikkisten mit eingetüteten Scherben, Steinen, Figuren, alte Lagepläne an der Wand und Erdkrümmel auf dem Boden. Die Fundstücke werden auf Backblechen gewaschen, und die Schönsten von ihnen landen nach dem Trocknen auch mal in einer der drei Schauvitrinen im Flur. Und um nur mal eine Größenordnung zu vermitteln: Die mehrjährigen Arbeiten auf dem ehemaligen Busbahnhof haben über 90 000 Fundstücke hervorgebracht.

Dass Neuss überhaupt eine eigene Bodendenkmalpflege hat und die Fundstücke auch behalten darf, ist erst seit 1983 möglich. Damals war die Stadt die erste, die eine entsprechende Vereinbarung mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) schloss, dem ansonsten alle Fundstücke zu übergeben sind: Sie behält die Funde und verpflichtet sich grundsätzlich, sie auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. "Inzwischen halten das sechs weitere Städte so", sagt Sauer.

Vier Monate graben — vier Monate im Büro, so teilt Sauer den Rhythmus ihrer Arbeit ein und gibt dabei auch gerne zu, dass das Graben die Kür ist. Ihr wichtigstes Handwerkszeug ist dabei eine spitze Kelle, "vorne schön eingeschliffen, dass man den Boden abschälen kann". Längst hat sie die Routine entwickelt, schon an der Farbe des Bodens zu erkennen, ob sie sich etwa in der "mittelalterlichen Füllschicht" befindet und "umschalten muss auf feinere Methoden". Langweilig ist das nie, sagt sie lächelnd, und spätestens, wenn der Anruf mit dem Satz "Kommen Sie doch mal vorbei" bei Carl Pause im Sels-Museum einläuft, besteht die Chance, Geschichte mal wieder neu zu schreiben.

Manches Mal dauert es auch Jahre, bis die wahre Bedeutung von Fundstücken erkannt wird. "Die Methoden verfeinern sich ständig", sagen Pause und Sauer. Der Ausgräber des Römer-Lagers, Constantin Coenen, habe zu seiner Zeit (1887—1904) manche Schlüsse gar nicht anders ziehen können, sagen die beiden — auch wenn sich später herausstellte, dass er ganz falsch lag. So hielt er Steinplattenreste aus der Badeanlage der Römer für Teile des Fußbodens. Erst neuere Untersuchungen zeigten, dass sie vom Unterzug der Fußbodenheizung stammten. Aber allein dass er überhaupt gegraben hat, ist gar nicht hoch genug zu schätzen: "Das Castrum Novaesium ist das einzig vollständig ausgegrabene Legionslager weltweit", sagt Pause, "in der ganzen Fachwelt bekannt und eine Blaupause für das Römerlager schlechthin."

Eine solche Entdeckung wie Coenen sie machen durfte, wird Sauer und Pause wohl kaum beschieden sein. Und dass sie selbst an diese nicht mehr herankommen, stört überhaupt nicht. Das Wissen darum, dass unter einer kleinen Parkfläche an der Ecke Nixhütter Weg/Kölner Straße das rechte Tor des Römerlagers liegt, reicht ihnen. Denn gerade bei solchen Funden gilt: Den besten Schutz bietet der Verbleib im Boden. "Wir graben aus, was sonst weggebaggert wird, aber eine Ausgrabung ist immer eine kontrollierte Zerstörung eines Bodendenkmals", sagt Pause. Und Sauer ergänzt nüchtern: "Jede Grabung ist eine Notbergung; Lustgrabungen sind im Gesetz nicht vorgesehen."

Aber auch so haben sie immer wieder Aha-Erlebnisse. Wenn alte Funde wie die Stoffreste aus einem vor 20 Jahren gefundenen Sarkophag plötzlich ganz neu bewertet werden, weil erst heute deren eingewirkte Goldfäden entdeckt werden. Oder wenn die klitzekleinen Austernschalen, die aus einer mittealterlichen Fäkaliengrube stammen, zu einem Rattenschwanz an neuen Erkenntnissen über Essgewohnheiten der alten Neusser bis hin zur Aufschlüsselung von Handelswegen führen. "Fäkaliengruben", sagt Sauer lächelnd, "hat man vor 30 Jahren noch links liegengelassen." Heute gehören sie mit ihren Knochen- und Essensresten zu den aufschlussreichsten Fundgruben für Archäologen überhaupt.

So sind beide Wissenschaftler dankbar, wenn ihnen Fundstücke gebracht werden. "Manchmal handelt es sich nur um ein Stück von einem 30 Jahre alten Abwasserrohr", sagt Sauer nüchtern, aber wissen könne man es ja nie. Dass viele Stücke auch in privaten Archiven verschwinden und mancher aus Angst, man könne ihm was wegnehmen, gar nicht erst bei den Archäologen auftaucht, tut ihnen fast weh. "Wir nehmen nichts weg, wenn rechtlich alles einwandfrei ist", sagen sie, "aber wir möchten gerne alles katalogisieren und die Herkunft erfahren." Pause und Sauer sehen sich noch als Teil einer Archäologen-Generation, die "ausgräbt und sichert". Denn irgendwann, so wissen sie, hört der Fluss der historischen Fundstücke auf: "Je mehr Flächen bebaut sind, desto weniger kommt noch zum Vorschein."

Aber vorerst, so legt der Blick auf die vielen Kisten und vollen Spinde im Alten Rathaus nahe, haben sie noch genug "Datenträger für künftige Fragen" (Pause) zum Auswerten parat.

(NGZ)
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