Neuss Wenn Macht den Menschen definiert

Neuss · Ein anstrengender Theaterabend, aber mit großer suggestiver Kraft: RLT-Intendantin Bettina Jahnke inszeniert zum Spielzeit-Auftakt das Stück "Das Himbeerreich" von Andres Veiel. 100 Minuten werden durchgespielt.

 Ein Banker lebt in einer Welt für sich. Abgehoben vom Rest der Menschheit - selbst wenn er sich tief im Keller wiederfindet.

Ein Banker lebt in einer Welt für sich. Abgehoben vom Rest der Menschheit - selbst wenn er sich tief im Keller wiederfindet.

Foto: Björn Hickmann

Er kaut nicht, er malmt. Schiebt das Kaugummi in seinem Mund auf eine Weise hin und her, dass man glaubt, die Kiefer knacken zu hören. Dabei sitzt er total cool da. Auf einem Schalensitz in diesem Raum, der ein Wartezimmer sein muss. Aber ohne sichtbaren Ein- und Ausgang. Breitbeinig, mit zurückgelehntem Oberkörper, die Arme lässig auf den Rückenlehnen rechts und links abgelegt, ein abschätziges Grinsen auf dem Gesicht - der junge Banker Niki Modersohn wirkt wie ein Erfolgsmensch, dem keiner was kann. Der smarte Youngster in dieser Gruppe von fünf Bankern braucht am längsten, um sich seine Abschiebung einzugestehen. Der Kampf mit dem Kaugummi ist das Sinnbild dafür.

Sechs Typen aus dem Bankwesen hat Andres Veiel in seinem Stück "Das Himbeerreich" versammelt, Fünf Banker, die alle bei vollem Gehalt abgehalftert wurden, weil sie zu viel wissen. Letzteres gilt auch für den einzigen Menschen wie du und ich in diesem Stück: Chauffeur Hinz, der viel zu viel gehört hat.

Dieses Wissen breiten die Sechs erst mal aus. Die Banker voller Selbstgefälligkeit und mit für jeden Außenstehenden schockierenden Einsichten in ein System, in dem der Mensch nichts, das Geld alles bedeutet. Fahrer Hinz dagegen auch mit Verständnis: "Ist ja ein einsames Geschäft, jeder in seiner eigenen Welt."

Aus der Luft gegriffen ist da nichts, denn Veiel montierte sein Stück aus Interviews mit realen ausgemusterten Bankern. Das 2013 uraufgeführte Stück ist schwere Kost. Eine Aneinanderreihung von Monologen, versetzt mit Elementen der Börsensprache, und ohne tragende Beziehungen unter den Figuren. Mehr Dokumentar-Theater denn Schau-Spiel. Den menschlichen Faktor bringt der Autor nur mit einem Chor hinein, der aus dem Leben eines unbekannten Ich erzählt. Ausgerechnet von dem hat sich RLT-Intendantin Bettina Jahnke in ihrer Inszenierung des Stücks am RLT getrennt. Ein Fehler? Nein, denn die Regisseurin arbeitet das Menschliche aus den Figuren selbst heraus. Über den Ton, in dem sie reden, über Gesten, mit denen sie das Gesagte von anderen kommentieren, über ihr Gebaren (wie dem Kaugummi-malmen), über körperliche Reaktionen bis hin zur eruptiven Aggression.

Etwa nach 60 Minuten, als man schon seufzend feststellt, dass diese inhaltlich vollgepackten Monologe, so gut sie auch gesprochen werden, etwas ermüden, legt Jahnke den Schalter um. Aus dem smarten Modersohn (Markus Gläser), dem abgeklärten Dr. Dr. hc Walter K. von Hirschstein (Joachim Berger), der kühlen Dr. Brigitte Manzinger (Ulrike Knobloch), dem desillusionierten Gottfried W. Kastein (Henning Strübbe), dem nervös-wütenden Bertram Ansberger (Philipp Alfons Heitmann) werden plötzlich Menschen, die mit sich und der Welt hadern. Da mischt sich Selbstmitleid mit Selbsterkenntnis, kippt die blasierte Haltung in Wut um, schließlich in Verzweiflung. Nun ist er da, der Punkt, an dem Hoffnung möglich ist und sich in der Frage bündelt: "Warum lassen wir uns das gefallen?"

Aber: Sie lassen sich von Jahnke sogar noch mehr gefallen. Das egalisierte, aber immerhin Status signalisierende Outfit der Business-Kleidung müssen sie gegen rote Trainingsanzüge tauschen. Jeder - auch Fahrer Hinz - trägt nun diesen roten Anzug, der ihn gleichmacht mit jenen, denen er sich bislang so überlegen fühlte. Dass Hinz (Stefan Schleue) ganz aufgeregt ist, weil "diese Abgrenzung aufgegeben wird" (auch von ihm, denn im Dienst trug er ja auch Krawatte), ist für die Banker zu viel. Mag der Kleidertausch sie vor dem Pöbel draußen schützen oder nicht - die ganze Szene mit dem geschlossenen Raum suggeriert eine Bunkersituation tief unten im Keller (Bühnenbild und Kostüme: Juan Léon)- , sie verlieren damit das letzte Stückchen ihrer Identität, die sie bislang allein über ihre Funktion definierten. Fahrer Hinz ergeht es deswegen wie dem Boten, der für die schlechte Nachricht geköpft wird.

Dieser Theaterabend muss erst mal sacken. Aber dann kann man gar nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Was nicht zuletzt auch daran liegt, dass alle sechs Darsteller mit großer suggestiven Kraft spielen.

(NGZ)
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