Ratingen Als der Krieg nach Ratingen kam

Ratingen · Pfarrer Stephan Weimann zitiert aus der Chronik seines Kollegen Johannes Sjuts, der von 1913 bis 1936 in Ratingen wirkte.

 Links: Pastor Johannes Sjuts mit seiner Frau. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1931.

Links: Pastor Johannes Sjuts mit seiner Frau. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1931.

Foto: Blazy, Achim (abz)

Der evangelische Pfarrer Johannes Sjuts, der von 1913 bis 1936 in Ratingen wirkte und auf dem evangelischen Friedhof begraben liegt, erzählt in seiner "Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Ratingen seit 1817", welche Folgen der Erste Weltkrieg für seine Gemeinde und ihre Menschen hatte. Dabei berichtet er viele interessante Einzelheiten zur Geschichte Ratingens in jener Zeit. Die nachfolgenden Ausschnitte sind unverändert aus der Chronik von Pfarrer Sjuts übernommen:

Ratingen: Als der Krieg nach Ratingen kam
Foto: Stadtarchiv

"Eben waren wir arglos in Urlaub gefahren, als die plötzliche Unruhe um den Kriegsausbruch uns nach Hause trieb, wo gerade Mobilmachung angeschlagen wurde. Am anderen Morgen, Sonntag, den 2. August, war die Kirche zu klein, die Menschen zu fassen, die sich unter Gottes Wort stellen wollten... Am Nachmittag hatte der Männer- und Jünglingsverein seine Soldaten verabschiedet, darunter auch den zur Hilfe in der Jugendarbeit erst am 10.11.1913 angestellten Gemeindehelfer Ernst Bendt. Bendt nahm mit eigentümlich schweren Vorahnungen Abschied und ist denn auch schon am 10. August im Elsaß gefallen. Wie wir erst später hörten, war die Truppe noch ohne Erkennungsmarken ins Gefecht geraten. Er war der erste von 19 Gemeindegliedern, hinter deren Namen das qualvolle Wort ,vermisst" stehen blieb. ..."

 Pfarrer Stephan Weimann im Archiv der evangelischen Kirche Tiefenbroich.

Pfarrer Stephan Weimann im Archiv der evangelischen Kirche Tiefenbroich.

Foto: achim blazy

Und weiter heißt es: "In Ratingen wurden drei Lazarette eingerichtet, in den beiden Krankenhäusern und im Lyzeum. Im evangelischen Krankenhaus wurden sogleich 30 Betten bereitgestellt und im Gemeindehaus arbeiteten 70 Frauen mit 18 Nähmaschinen an der Herstellung der nötigen Bettwäsche und der 200 Hemden und Lazarettanzüge... Bis zum 31. Dez. 1914 pflegte das evangelische Krankenhaus schon 129 Verwundete. Am 30. März 1915 fand das erste Kriegerbegräbnis auf dem von uns bereitgestellten und mit eichenen Kreuzen geschmückten Ehrenfriedhof statt. Später wurden im ganzen 18 Krieger, darunter 8 Gemeindeglieder, dort beerdigt. Auch 3 griechisch-katholischen Russen, die im Ratinger Kriegsgefangenenlager starben, hielt der Pfarrer die Grabrede, die ein Dolmetscher übersetzte..." "Weihnachten 1915 standen 437 Gemeindeglieder im Felde. Am 22. Februar 1915 war Ratingen Garnison geworden. Das 2. Ersatzbataillon des Niederrheinischen Füsilierregiments Nr. 39 zog bei uns ein, und für die evangelischen Mannschaften, deren Zahl am 1.9.15 mit 1145 angegeben wurde, galt es einen besonderen Militärgottesdienst einzurichten. Er fand jeden Sonntag früh um 8 Uhr statt, da die Kirche zu klein war, Militär und Gemeinde zugleich zu fassen. Der Ortspfarrer wurde ausdrücklich zum Garnisonpfarrer bestellt. Daraus ergaben sich auch ernste Fälle von Einzelseelsorge, zum Beispiel an einem feinsinnigen jungen Mann, der im Felde einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte und der sich im Pfarrhaus, in dessen Betreuung der Kommandeur, Herr Hauptmann Windscheidt, ihn befohlen hatte, langsam erholte. Am 16. März 1915 hatte Ratingen zum erstenmal das ergreifende Schauspiel, einen Teil der Garnison ins Feld ausrücken zu sehen. Auf dem Hofe des Lehrerseminars standen die 500 Krieger, von ihren Angehörigen und Alt und Jung umgeben, um einen Feldaltar, und die Geistlichen beider Konfessionen sprachen zu ihnen. Am 27. März fand an derselben Stätte zum erstenmal die Vereidigung von 400 Rekruten statt. Diese zuerst erhebenden, später bedrückenden Feiern wiederholten sich nun die Jahre hindurch; zuletzt war es eine Not, die Familienväter ausrücken zu sehen, die als Armierungssoldaten fortmussten, nachdem kaum noch Felddienstfähige in Ratingen waren... Die starke Garnison legte der Gemeinde auch die Verpflichtung auf, den Mannschaften ein gemütliches Heim einzurichten, wo sie ihre Sonntagnachmittage nützlich zubringen konnten. Dafür stellte das Presbyterium das Gemeindehaus zur Verfügung und setzte 150 Mark für Bedienung aus. Am 21. März 1915 wurde das Heim eröffnet, zu welchem ein von Meister Lammert gemaltes Schild mit den 4 Flaggen der Verbündeten und der Aufschrift: ,Christliches Soldatenheim' einlud... Der Jungmännerverein stellte seine Bibliothek, Spiele und Zeitschriften zur Verfügung; Musikinstrumente wurden beschafft; besonders dankbar wurde die Schreibgelegenheit benutzt. Eine Andacht wurde eingerichtet, auch wohl kleine Vorträge gehalten, an denen sich Herren aus der Gemeinde beteiligten. Die Schulen machten sich eine Freude daraus, für Unterhaltung zu sorgen und z.B. bei der Weihnachtsfeier zu helfen. Als im Jahre 1917 infolge der Hungerblockade die Kriegswurst immer dünner geschnitten werden mußte, war der Zuspruch um so stärker. Zuletzt konnte nur noch eine mit Marmelade gestrichene Brotscheibe gegeben werden, wozu das Mehl durch Abgabe eines ,Nümmerchens' von der Brotkarte erbettelt werden mußte. So bestand das Soldatenheim bis zum 13. Jan. 1918, als das Ratinger Bataillon wieder aufgelöst wurde."

(RP)
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