Ratingen In aller Frühe geht es auf den Weg zu Gott

Ratingen · Morgens um 6 Uhr kommen vor allem Jugendliche zur "Frühschicht" von Pfarrer Ludwin Seiwert - ein Besuch in tiefer Dunkelheit.

 Pfarrer Ludwin Seiwert mit Jugendlichen bei der gestrigen "Frühschicht" in der Kirche Heilig Geist in West. Nur über dem Altar gibt es ein wenig Licht - nichts soll ablenken.

Pfarrer Ludwin Seiwert mit Jugendlichen bei der gestrigen "Frühschicht" in der Kirche Heilig Geist in West. Nur über dem Altar gibt es ein wenig Licht - nichts soll ablenken.

Foto: Blazy, Achim (abz)

west Allerherrgottsfrühe - das ist der erste Begriff, der mir an diesem windigen, ja fast schon stürmischen, aber viel zu milden Dezember-Freitagmorgen um 5.50 Uhr in den Sinn kommt, als ich über den Maximilian-Kolbe-Platz in Richtung Heilig Geist-Kirche gehe. Es ist dunkel - naturgemäß zu dieser Jahreszeit um diese Uhrzeit -, der Wind pfeift heftig über den Platz. Ein ungastlicher Ort. Und doch ist da ein Licht - wie klischeehaft. Aber es ist ein Licht, das an diesem unwirklichen Morgen zumindest etwas Wärme bringt und mir den richtigen Weg zeigt. Mir, dem Protestanten, der auf der anderen Seite des Kirchenzentrums West vor vielen Jahren konfirmiert wurde, weist es den Weg in die Heilig Geist-Kirche zu Pfarrer Ludwin Seiwert.

"Sie können ruhig kommen, auch wenn Sie evangelisch sind und sich mit den katholischen Gottesdienstriten nicht so auskennen", hat der 73-Jährige, der im kommenden Sommer in Rente geht, mir im Vorgespräch am Telefon gesagt: "Bei der Frühschicht sind viele Besucher, die kaum Erfahrung mit Kirche haben. Ich erkläre also immer, was wir machen." Was den sympathischen Priester und mich an diesem Morgen erwartet? Seiwert grinst bei der Begrüßung verschmitzt: "Das ist ja das Spannende. Ich weiß es nicht, mal kommen fünf Leute, mal 50. Mal kenne ich viele Gesichter, mal kaum welche. Nur eines weiß ich: In 25 Jahren habe ich noch nie bei einer Frühschicht alleine hier gestanden."

Der mächtige Hauptraum des Betonklotzes, den die Planer bei der Entwicklung einst für eine Kirche gehalten haben, ist nahezu dunkel. Nur über dem Altar, hoch oben in der Decke, leuchten vier Lampen. Doch sie sorgen nur für das Nötigste an Licht. Später erklärt mit Seiwert, das müsse so sein: "Es geht bei der Frühschicht darum, dass wir uns auf das Wesentliche, nämlich unseren Glauben, konzentrieren. Und das ist immer dann besonders gut möglich, wenn uns nichts ablenkt."

 Nach der Messe gibt es ein Frühstück im Pfarrsaal am Maximilian-Kolbe-Platz, bevor es in die Schule oder zur Arbeit geht.

Nach der Messe gibt es ein Frühstück im Pfarrsaal am Maximilian-Kolbe-Platz, bevor es in die Schule oder zur Arbeit geht.

Foto: Blazy, Achim (abz)

Mittlerweile ist es kurz vor 6 Uhr. Der stürmische Wind pfeift um das Gebäude, scheint mit jedem Mal, wenn ein neuer Besucher die Kirchentür öffnet, um Einlass zu bitten. Und was ich - zugegeben - nicht wirklich geglaubt habe, tritt ein. Vor allem Jugendliche finden an diesem Morgen den Weg in das Gotteshaus. Mike zum Beispiel, der 16-Jährige aus Tiefenbroich: "Ich bereite mich gerade auf meine Firmung vor. In der vergangenen Woche war die Frühschicht ein Pflichttermin. Heute bin ich freiwillig hier." Warum? Die Antwort kommt sofort: "Weil ich unheimlich an Gott glaube." Das frühe Aufstehen dafür sei für ihn kein Problem, so der Teenager. Ganz im Gegensatz zu Pfarrer Seiwert: "Ich bin bestimmt kein Langschläfer, aber dieses ganz frühe Aufstehen fällt mir schon schwer."

Die Kirche füllt sich langsam, aber sicher. Vier Jungs, alle so zwischen 16 und 18, treten ein. Wer sie auf der Straße sehen würde, dem würde wohl schnell das schöne neudeutsche Wort "cool" einfallen. Doch hier in der Kirche wissen sie irgendwie nicht so richtig, wie sie sich verhalten sollen. Die Unsicherheit der Teenager ist beinahe zum Greifen nah - aber egal, es wirkt authentisch. Es ist still, und gerade deswegen wirkt ihr leises Tuscheln besonders laut. Sie merken es und setzen sich.

Die Bänke liegen komplett im Dunkeln, hier ist jeder gleich. Und auch Ludwin Seiwert steht nicht etwa im Hellen, als er die Gäste begrüßt und spricht. Es sind nur wenige Minuten, die Seiwert redet - und er sagt doch so viel über das Motto dieser Frühschicht "Geh!". "Gehen kann sogar wichtiger sein als kommen, zum Beispiel, um sich bei jemanden zu entschuldigen", erzählt er. Gott traue jedem Menschen zu, dass er geht, dass eben nicht alles beim Alten bleibt. Dass es sich lohnt, manchmal auf neuen Wegen zu gehen.

Und auch wenn es noch immer dunkel ist, als nach einer guten halben Stunde die ersten Besucher sich aufmachen, an die Pflichten ihres Tages zu gehen, scheint es so, als wirke so manches klarer - der Weg ist das Ziel. Und dafür muss man eben gehen. Die Dunkelheit auf dem Weg zurück zum Auto wirkt gar nicht mehr so erdrückend wie noch 45 Minuten zuvor.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort