An(ge)dacht Vom Schenken

Ratingen · Ich lass' mir nichts schenken, dann bin ich auch niemandem verpflichtet." Es gibt gewiss nicht wenige, die so denken. Sie werden immer die Ausnahme bleiben. Irgendwie ist es auch armselig, so zu denken, finden Sie nicht? Ich halte es da lieber mit dem jüdischen Weisheitslehrer Jesus Sirach. Er schrieb um das Jahr 190 vor Christus: "Schenke und lass' dich beschenken und gönne auch dir etwas, denn wenn du tot bist, hast du nichts davon." Ein sympathischer Zeitgenosse, einer, der gegen das schlechte Gewissen redet: "Ein geiziges Auge trocknet die Seele aus." In den Worten dieses lebensfrohen Mannes leuchtet mein eigenes Leben auf: Achte auf jeden Tag, klammere dich nicht fest am Werk deiner Hände. Lass' dich anrühren von Menschen und vom Leben. Du musst doch sowieso alles wieder loslassen! Und siehe da, welche Überraschung: Es wird mir eben doch eine Menge geschenkt. Ein fröhlicher Tag vielleicht. Ein gesundes oder wenigstens erträgliches Aufwachen. Eine unerwartete Aufmerksamkeit. Ein Lächeln. Ein guter Gedanke. Mut zum Anpacken oder auch zum Loslassen. Kraft zur Aussprache oder auch zum Schweigen. Vieles mehr noch.

Klar, hier in West zum Beispiel wissen es viele: Wenig Gutes ist selbstverständlich und das Wenige muss täglich neu erkämpft werden. Gerade deshalb gilt: Wenn wir uns öffnen für die Geschenke eines jeden Tages, wird sich auch unser Blick auf die, die mit uns leben, verändern, schärfen, korrigieren. Wird freundlicher werden. Oder sollte es zumindest. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen "das Glück des heutigen Tages".

Ulrich Kern

Pfarrer von Heilig Geist

(RP)
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