Ratingen Wenn normaler Lärm Schmerzen bereitet

Ratingen · Mareike Eggert ist hochsensibel. Sie hat eine Selbsthilfegruppe gegründet, die sich regelmäßig in Neviges trifft.

 Mareike Eggert ist hochsensibel - ihr tut normaler Straßenlärm so weh, dass sie sich manchmal die Ohren zuhalten muss.

Mareike Eggert ist hochsensibel - ihr tut normaler Straßenlärm so weh, dass sie sich manchmal die Ohren zuhalten muss.

Foto: Dietrich Janicki

Sie halten Lärm kaum aus und machen einen großen Bogen um laute Partys. Chaos und Veränderungen bringen sie völlig aus dem Tritt. Sie brauchen viel Zeit für sich allein und gehen am liebsten dorthin, wo es möglichst still und reizarm ist. Heulsuse, Angsthase oder Mimose sind Wörter, die sie als Kind oft gehört haben. Nicht nur von Klassenkameraden, sondern oft auch von Eltern und Geschwistern. Im Psychologenjargon heißen sie mittlerweile die "Hochsensiblen".

Die Rede ist von besonders empfindsamen Menschen, deren Nervensystem so beschaffen ist, dass sie weitaus mehr Reize aufnehmen können und verarbeiten müssen, als normalerweise üblich. Statistisch gilt mittlerweile jeder zehnte Bundesbürger als hochsensibel - viele der Betroffenen landen dennoch immer wieder auf der Couch von Therapeuten, bis sich ihre vermeintliche Angsterkrankung oder ein irrtümlich diagnostiziertes Hyperaktivitätssyndrom als übermäßige Empfindsamkeit erweist.

Bei Mareike Eggert lief es ähnlich. "Vor drei Jahren habe ich die ADHS-Diagnose (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Anm. d. Red.) bekommen", erinnert sich die 32-Jährige an den Moment, als ihr jahrelanges Leid plötzlich einen Namen hatte. Dass auch diese diagnostische Schublade nicht passte, merkte sie jedoch schon ziemlich früh. Das verordnete Ritalin half nicht. Im Gegenteil, die Nebenwirkungen waren zu stark, sie bekam Allergien. Hochsensible Menschen reagieren besonders intensiv auf Medikamente und Überdosierungen: Auch das ist ein Merkmal ihrer Veranlagung. Nur selten dürfen sie bei Ärzten auf Verständnis hoffen.

"Für die meisten ist das kein Thema. Man wird schnell in die Psychoecke geschoben", weiß auch Mareike Eggert. Vor einem Jahr gründete sie eine Selbsthilfegruppe für Hochsensible. Für viele der Betroffenen sind die regelmäßigen Treffen der einzige Ort, an dem sie Verständnis und Zuspruch bekommen. Eine jahrelange Odyssee durch Arztpraxen und gescheiterte Therapieversuche sind auch heute noch an der Tagesordnung. Dabei ist das Phänomen "Hochsensibilität" bereits seit 25 Jahren bekannt und erforscht. "Ein empfindsames Nervensystem zu haben ist normal. Diese Menschen können Feinheiten in ihrer Umgebung eher wahrnehmen.

Allerdings fühlen sich hochsensible Menschen häufig überfordert, wenn sie über einen zu langen Zeitraum starken Reizen ausgesetzt sind und von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert werden, bis ihnen ihr Nervensystem Erschöpfung signalisiert", weiß Elaine Aron. Die US-Therapeutin hat das Phänomen bereits in den 1990er Jahren intensiv erforscht. Sie hat mit unzähligen Betroffenen gesprochen, die sich über Jahre hinweg für verrückt hielten und ihre Empfindsamkeit meist verborgen haben.

Auch körperlich wirkt sich der fehlende Reizfilter aus: Hochsensible leiden häufiger unter Allergien, erhöhter Kälte-Wärme-Empfindlichkeit und Erschöpfung. Auch Mareike Eggert hat das Standardwerk der Psychologin in ihrem Regal stehen. Den dazugehörigen Test hat sie gemacht, das Ergebnis war eindeutig. Seither versucht sie, besser mit ihrer hohen Empfindsamkeit für Außenreize zu leben. Dazu gehöre vor allem, Grenzen zu setzen.

Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass Hochsensibilität oft Probleme im Berufsalltag mit sich bringt. Hochsensible sind weniger belastbar und langsam, dafür aber gründlich. Dort, wo es um schnelle Ergebnisse geht, geraten sie oft ins Aus. "Man neigt zu Perfektionismus und braucht längere Erholungspausen", so Mareike Eggert. Sie selbst hat sich darauf eingerichtet und ihr ist klar, dass nur eine Teilzeitstelle genügend Raum zur Erholung lässt.

(RP)
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