Remscheid Auf dem Weg zum Mann mit dem Hammer

Remscheid · Im Forschungszentrum für Leistungsdiagnostik der Bergischen Universität wird das Bauchgefühl des Läufers mit Tatsachen konfrontiert.

Diese Marathon-Läufe gibt es in NRW
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Foto: Woitschützke, Andreas

Läufer bekommen nichts geschenkt. Keiner kann wie beim Fußball auf einen glücklichen Pfiff des Schiedsrichters hoffen, oder wie beim Golfsport, dass ein verrissener Abschlag einen Ast touchiert und der Ball wieder aufs Fairway rollt. Soweit die Füße tragen. Nur das zählt beim Laufen.

Zahlen lügen nicht. Im Forschungszentrum für Leistungsdiagnostik und Trainingsberatung der Bergischen Universität wird das Bauchgefühl mit medizinischen Tatsachen konfrontiert. Wer verlässlich wissen will, wie es um seine Kondition und Fitness bestellt ist, der lässt sich an Schläuche anschließen, bekommt eine Maske aufgesetzt und muss sich aus einem Ohrläppchen alle fünf Minuten einen Tropfen Blut quetschen lassen. Den Rest erledigen die Rechenprogramme der Computer.

Aus zwei Perspektiven wird das Laufen beobachtet. Wie funktioniert die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff unter steigender Belastung? Und wie entwickeln sich die Laktatwerte im Blut? Laktat ist das Salz der Milchsäure. Es entsteht als Stoffwechselprodukt vor allem bei starker körperlicher Beanspruchung in den Muskeln. Diese beiden Parameter sind verlässliche Anhaltpunkte dafür, was der Läufer zu leisten im Stande ist.

Professor Jürgen Freiwald leitet den Lehrstuhl für Bewegungswissenschaften in Wuppertal. Eine Pinnwand mit Fotos im Labor des Leistungszentrums zeigt bekannte und weniger bekannte Leistungssportler, darunter viele Gesichter von jungen Fußballern. Das Angebot zur Diagnostik richtet sich auch an den normalen Hobby-Sportler. Wer das Laufband oder das Fahrrad wieder verlässt, bekommt eine ausführliche Bewertung seiner Ergebnisse und einen Trainingsplan nach Hause geschickt.

"Das sieht alles sehr gut aus ", ruft Mitarbeiter Matthias Kühnemann, der den Fitnesstest durchführt. Die dritte Stufe des Programms ist bereits gezündet. Durchschnittsgeschwindigkeit zehn km/h. Mit der Atemmaske im Gesicht kommt man sich vor wie Hannibal Lecter. Nur nicht ganz so grimmig. Kommunikation geschieht hauptsächlich per Handzeichen, Daumen rauf oder Daumen runter. Zwischendurch fragt Kühnemann nach der subjektiven Einschätzung des Befindens, während er die objektiven Daten auf den Monitoren beobachtet. Dazu hilft als Orientierungsmaß eine vielfarbige Skala. Wir befinden uns am Rande des gelb-grünen Bereichs. Noch.

Nach fünf Minuten gibt es immer ein paar Sekunden Pause. Ein Sprung zur Seite, ein Druck am Ohrläppchen und weiter geht's. Schneller, immer schneller. Dieser Test erfordert uneingeschränkte Bereitschaft zum Leiden. Wir laufen geradewegs auf die Stelle zu, bei dem der Mann mit dem Hammer wartet. Das ist jene viel zitierte Erscheinung, der einige Marathonläufer häufig ab Kilometer 30 begegnen. Zum Glück sichert uns eine Weste beim Test, dass wir nicht vom Band und ihm in die Arme fallen, wenn der Körper schlappmacht. Aber so weit ist es noch nicht.

"Das sieht noch sehr locker aus", ruft Kühnemann und schaut dabei auf den Doppelmonitor. Dort steigen eine blaue und eine rote Linie nebeneinander hoch. Solange sie sich nicht kreuzen, ist alles noch gut.

Remscheid: Auf dem Weg zum Mann mit dem Hammer
Foto: Hertgen, Nico (hn-)

Herzfrequenz 198, Tunnelblick, nur der schnelle Atem unter der Maske ist zu hören, die Beine werden schwerer und härter. "Noch eine Minute. Durchhalten", ruft Kühnemann. Wie unendlich lang kann eine Minute sein? Schluss. Aus. Vorbei. "Super", sagt Kühnemann. Er muss noch einmal ins Ohrläppchen stechen, weil beim Drücken für die Laktatwertmessung nichts mehr kommt. Alles Blut ist in die Beine gesackt, dort, wo es am dringendsten gebraucht wurde.

Bis zur Erschöpfung zu rennen, bleibt natürlich die Ausnahme. Fitness-Training sieht anders aus. Drei Mal in der Woche 30 bis 40 Minuten Joggen fördert die Gesundheit. Das, was überall zu lesen ist und jeder eigentlich weiß, bestätigt auch Professor Freiwald. Allerdings bewegt sich die Wissenschaft weg vom Ausdauersporttraining hin zum Krafttraining. Die Formel lautet: Wer 3000 Kalorien pro Woche durch Bewegung verbraucht, erhalte seine Fitness und beuge den Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht vor. Zur Bewegung gehört für Freiwald auch das Treppensteigen genauso wie eine Runde auf dem Golfplatz. "Durch Training kann man nicht alles verändern", sagt der Sportwissenschaftler. Jeder Mensch hat eine individuelle Disposition, die natürliche Grenzen setzt. Die gilt es immer zu berücksichtigen.

Eindeutig ist die Haltung des Sportprofessors zum Abnehmen, das viele zunächst zum Laufen motiviert. Jede einseitige Diät soll vermieden werden, rät der Wissenschaftler. Die in Fitness-Centern gern geschätzten Eiweißgetränke hält er für überflüssig. "Ich würde eher einen Schluck aus dem Abwasserbecken von Bayer Leverkusen nehmen als so ein Protein-Getränk zu trinken." Auch in der Diskussion, ob der Läufer sich direkt nach dem Lauf dehnen sollte oder nicht, gibt es eine klare Erkenntnis. "Es hat keinerlei Nutzen", sagt der Sportwissenschaftler.

Zahlen lügen nicht. Mit reichlich Zahlenmaterial ausgestattet und frisch geduscht, geht's nach Hause. Neben den vielfältig dokumentierten Testergebnissen liegt ein Trainingsplan bei, gegliedert nach Rubriken Dauer, Geschwindigkeit und Herzfrequenz. Wer immer nur im gleichen Tempo die gleiche Strecke läuft, entwickelt sich nicht. Es gilt, intelligent zu trainieren, längere Läufe mit Intervalltraining zu mixen und Erholungsphasen einzulegen. Zwischen 30 und 40 Kilometer pro Woche zu laufen, das verlangt Disziplin. Anders wäre aber ein Halbmarathon oder gar Marathon nicht zu schaffen.

Aber warum laufen wir eigentlich? Der Schriftsteller und Läufer Matthias Politycki schreibt dazu am Ende seines Buches "42 195": "In den Stunden nach einem Marathon werden all die Phrasen vorübergehend wahr, die von den Veranstaltern darüber in die Welt gesetzt werden. Aber ja doch, jeder einzelne von uns ist an diesem Tag 'for a better world' gelaufen. Aber vielleicht laufen wir auf diese Weise nur vor unseren eigentlichen Aufgaben davon... Rund um uns rücken die Kriege näher, eine gewaltige Völkerwanderung ist im Gange und manches gerät aus dem Lot, was unsere schöne, alte Welt ausgemacht hat ... Härtere Zeiten stehen uns bevor, strengere, intolerantere. Und wir rennen und rennen, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun... Aber selbst in Zeiten wie der unsern kann man nur an seinem Platz verharren und weiter das tun, was man eben tut. Würden radikalere Kulturen auch nur annähernd so konsequent trainieren wie die westlichen, wir hätten bald tatsächlich eine bessere Welt. Bewahren wir die unsere, so lange es geht, und trainieren weiter." So wird Laufen zum Geschenk.

(RP)
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