Rhein-Kreis Neuss Betriebe buhlen um die Qualifizierten

Rhein-Kreis Neuss · Gibt es einen Akademisierungswahn? Das vermutet IHK-Geschäftsführer Frank Lorenz. Weil zu viele junge Menschen studieren wollen, fehlt zahlreichen Unternehmen der Nachwuchs. Betriebe und Verbände setzen auf Studienabbrecher.

Wenn Ute Gruben die mehr als 80 Ausbildungsstellen der Niederrhein Energie und Wasser GmbH (NEW) besetzt, muss sie sich im Prinzip nie Gedanken darüber machen, dass sie nicht genügend Bewerber haben könnte. Rund 800 junge Menschen melden sich jährlich bei dem Mönchengladbacher Versorger und seinen Tochtergesellschaften und wollen eine Ausbildung im kaufmännischen oder gewerblichen Bereich machen. Für die Ausbildungsleiterin bei der NEW gilt dann das, was ihre Kollegen in ähnlich gefragten Unternehmen auch tun müssen: Sie siebt aus.

"Wir hatten einen Rückgang bei den Bewerbern im kaufmännischen Bereich", sagt sie. Dafür hat sich die Zahl der Azubi-Kandidaten bei den Kfz-Mechatronikern verdoppelt. NEW-Vorstandsvorsitzender Friedhelm Kirchhartz hört dies gerne. "Wir setzen auf unsere Azubis und übernehmen fast alle. Und die jungen Menschen wissen: Bei uns kann auch ein ehemaliger Busfahrer Leiter des Fahrdienstes werden."

Kirchhartz kann sich beruhigt zurücklehnen. Und mit ihm Chefs anderer Unternehmen, die wie Magneten wirken, wenn junge Menschen Ausbildungsstellen suchen.

Aber es gibt auch die andere Seite: Firmenbosse und Handwerksmeister, die Lehrstellen besetzen müssen, aber nicht genügend geeignete Bewerber finden. Davon können Stefan Bresser, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Mönchengladbach, und sein Kollege Klaus Koralewski, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Niederrhein, ein Lied singen. Bei ihnen melden sich immer mehr Handwerksbetriebe, die angehende Kfz-Mechatroniker, Elektroniker und Tischler dringend benötigen - aber sie nicht finden. "Die handwerkliche Ausbildung ist eine hervorragende Basis, beispielsweise für eine spätere Selbstständigkeit", wirbt Koralewski.

Denn er weiß: Der Markt wird immer enger. Weil die Zahl der jungen Menschen insgesamt abnimmt, konkurrieren die Betriebe um jeden ausbildungsfähigen Kandidaten. Dass es auch diejenigen gibt, deren Qualifikationen nicht ausreichen und denen mühsam Kenntnisse beigebracht werden müssen, darauf haben sich die meisten Unternehmen längst eingestellt.

Aber sie brauchen auch besonders Qualifiziert. Und beim Buhlen um diese kommen den Unternehmern oft die Hochschulen in die Quere. "In unserer Gesellschaft herrscht ein Akademisierungswahn. Zu viele Abiturienten sehen ausschließlich im Studium den Weg zum beruflichen Erfolg, obwohl nicht jeder dieses Ziel erreichen wird. Die Fachkräftebasis im Mittelstand sind Facharbeiter und -angestellte - und keine Bachelor-Absolventen", stellt Frank Lorenz, IHK-Geschäftsführer für Aus- und Weiterbildung, klar. Und so richten er, aber auch seine Kollegen Bresser und Koralewski ihren Blick auf die jungen Menschen, die ein Studium begonnen haben, es aber abbrechen wollen: Sie sollen für eine Ausbildung in der Industrie und im Handwerk gewonnen werden.

Erste Erfahrungen gibt es, aber die Resonanz ist noch sehr verhalten. Lorenz: "Wir bieten beispielsweise eine IT-Ausbildung an. Die Nachfrage ist bis jetzt nicht groß." So könnte eine Gruppe verstärkt Berücksichtigung finden, die in der Arbeitsmarktstatistik geführt wird: 2341 Männer und Frauen, die nicht älter als 24 Jahre und als arbeitslos gemeldet sind - so der jüngste Wert aus der Statistik für Ende Oktober. Ihnen den Zugang in einen Job zu ermöglichen, das ist die Aufgabe von Arbeitsagentur-Chefin Angela Schoofs und ihrem für die Vermittlung zuständigen Agentur-Geschäftsführer Wolfgang Draeger.

Sie müssen dabei ein anderes Problem lösen: Viele von den 2341 jüngeren Menschen kommen zwar prinzipiell für eine Ausbildung in Frage. Doch unter ihnen sind wiederum viele, deren Fähigkeiten und Kenntnisse nichtzu dem passen, was die Unternehmen fordern. Dabei geht's auch um die sogenannten Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Fleiß.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort