Rhein-Kreis Neuss Bijan Djir-Sarai – ein deutscher Politiker

Neuss · Der Grevenbroicher FDP-Politiker mit Wahlkreis im Rhein-Kreis Neuss sitzt seit 2009 im Bundestag. Er gehört zu den Abgeordneten mit Migrationshintergrund. Als deutscher Außenpolitiker besuchte er jetzt seine Geburtsstadt Teheran.

Die Fotos an den Hauswänden zeigen junge Soldaten. Alle um die 20 Jahre alt. Sie sind im Krieg gegen den Irak gefallen, der die Iraner traumatisiert. Den Schulweg, den Bijan Djir-Sarai Anfang der 1980er Jahre täglich ging, macht die Bildergalerie heute zu einer "Straße der Märtyrer".

Auch 30 Jahre später fällt es dem deutschen Bundestagsabgeordneten aus Grevenbroich schwer, darüber zu sprechen, was damals geschah. Wenn Saddam Husseins Luftwaffe die Stadt bombardierte, zitterten die Teheraner in den Kellern ihrer Häuser. So auch der kleine Bijan, dessen Elternhaus sich hinter hohen Mauern der Qoba-Straße im Zentrum der Metropole mit 9 Millionen Einwohnern verbirgt: "Hier könnte mein Bild hängen." Genau das wollte der Vater verhindern. Darum setzte er seinen heranwachsenden Sohn in ein Flugzeug, noch ehe er alt genug für die Einberufung war. Besser ohne Sprachkenntnisse und ohne Eltern im fernen Deutschland aufwachsen, als Gefahr laufen, im Iran zu den Waffen gerufen zu werden. Seit der islamischen Revolution 1979 leben Djir-Sarais wie alle Iraner in einem totalitären Staat.

August 1987. In Frankfurt warten Tante und Onkel, ein Tierarzt aus Grevenbroich, auf den elfjährigen Bijan. Das neue Leben beginnt, ebnet den Weg für einen Aufstieg, der ihn nur 22 Jahre später in den Bundestag führt. Der vorläufige Höhepunkt einer der ungewöhnlichsten Migrantengeschichten in Deutschland. So ganz nebenbei wird Djir-Sarai auch noch zum Vize-Landrat im Rhein-Kreis gewählt. Integrationsprobleme gibt es offenbar nicht. Bijan lernt Deutsch, spielt mit den Nachbarkindern Fußball, besucht das Pascal-Gymnasium in Grevenbroich, studiert in Köln Betriebswirtschaftslehre. Am 27. September 2009 ruft Bijan seinen Vater im fernen Teheran an: "Papa, es hat geklappt. Ich sitze im Bundestag."

Der junge Bijan hatte sich früh bei den Jungen Liberalen engagiert, war 2004 FDP-Spitzenkandidat bei den Kreistagswahlen. Dann der Sprung in den Bundestag. Beobachter prophezeien ihm eine große Karriere. Beim Ehrenvorsitzenden der FDP, Hans-Dietrich Genscher, saß er zur Privataudienz schon auf der Wohnzimmer-Couch. Das kommt einem liberalen Ritterschlag gleich ...

Den Frankfurter Flughafen, wo er im August 1987 seine iranische Identität hinter sich lassen musste, hasst er. Frankfurt ist die Schleuse, die er passieren muss, um zwischen alter und neuer Heimat zu pendeln. "Ich fliege für vier Tage in die Unfreiheit." Mit diesem Satz betritt er den Lufthansa-Airbus, der ihn in weniger als fünf Stunden nach Teheran bringt: "Uns kann nicht egal sein, was im Vorgarten Europas geschieht." Kurzer Flug, große politische Distanz.

Djir-Sarai lässt es nicht kalt, was in der alten Heimat, im Mittleren Osten vor sich geht. Seine Eltern leben dort, Verwandte, Freunde – er ist den Menschen nahe. Seine Wurzeln kann keiner auswechseln – er kann aber den Weg wechseln, den sein Leben nimmt: "Heute bin ich zu 100 Prozent Deutscher, der iranische Eltern hat." Wenn er nicht "zu 100 Prozent deutsch" sei, doziert er, "könnte ich auch nicht im Bundestag als Vertreter des deutschen Volkes sitzen." Zum vierten Mal seit 2009 fliegt er als Bundestagsabgeordneter nach Teheran. So oft wie kein anderer deutscher Politiker.

Er reist mit deutschem Diplomatenpass in das Land seiner Vorfahren: "Ein komisches Gefühl." Offenbar auch für seine iranischen Gastgeber, die alle Gespräche von einem Dolmetscher übersetzen lassen, obwohl allen bewusst ist, dass Djir-Sarai perfekt Farsi spricht. Er ist in Teheran, um auszuloten, ob für die iranische Bevölkerung Erleichterungen im Alltag möglich sind. Ja, er setze sich dafür ein, dass lebenswichtige Medikamente nicht unter das internationale Totalembargo fallen. Ja, dabei unterstütze ihn auch der deutsche Außenminister. Aber der Erfolg sei bescheiden.

Djir-Sarai lächelt mit den Gastgebern in die Kameras, führt konstruktive Gespräche mit den Vertretern des Regimes, "das verantwortlich dafür ist, dass meine Familie irreparabel zerrissen wurde." Der Stachel sitzt tief. Die islamische Revolution hat die Familie erschüttert. Der Vater, der in Deutschland studierte und zu Schah-Zeiten Karriere gemacht hatte, verlor seinen Job in der Erdölindustrie. Heute lehrt er als Chemiedozent an der Hochschule: "Ich kann nicht aufhören." Will er auch nicht: "Das Leben in Teheran bietet wenig Abwechslung."

Für die überglückliche Mutter zählt nur eins: "Bijan, Bijan!" Der Sohn ist da. Die Eltern haben das große Haus mit Park an der Qoba-Straße längst verkauft. Sie haben sich kleiner gesetzt. Das schmucke Appartement ist Teil einer noblen Wohnanlage im Norden der Stadt, wo die Luft besser und der Blick auf die schneebedeckten Berge atemberaubend ist. Dort lebt die Oberschicht hinter hohen Mauern. Die Alten – aufgeklärt, gebildet, finanzstark, westlich – wollen nicht gehen: "Das ist auch unser Land!" Mit ihrer Anwesenheit wollen sie dokumentieren, dass sie an eine gute Zukunft für ihr Land glauben. Aber glauben sie das wirklich? Die Alten bleiben unter sich und schauen sich Bilder ihrer Kinder an. Die leben in London, Paris, Mailand, Seoul oder auch Grevenbroich. Die Mutter holt ein Foto vom Klavier, das ihren Bijan mit Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem UN-Gebäude in New York zeigt. In diesem Moment ist sie stolz und überzeugt: Ihr Mann und sie haben alles richtig gemacht, damals im August 1987. Bijan ist in der neuen Heimat oben angekommen. Lohn für ganz viel Last und manches Leid. Doch der Preis, den die Djir-Sarais zahlen, ist hoch: Auch die Tochter studiert, lebt und liebt längst in Deutschland. Was den Alten bleibt, ist auch von ihr ein Bild auf dem Klavier.

Am 14. Juni wählen die Iraner einen neuen Präsidenten. Mag die Liste der acht Kandidaten auch noch so fragwürdig zustande gekommen sein; mag der Präsident an Macht und Einfluss dem auf Lebzeiten ernannten Revolutionsführer auch unterlegen sein, mit der Wahl verbinden alle Iraner doch eine große Hoffnung: Möge ein neuer Präsident mit einer neuer Rhetorik die Tür zu konstruktiven Gesprächen mit dem Westen aufstoßen.

Djir-Sarai ist gerade auch in diesen Tagen der Vorwahlzeit nach Teheran gereist, um zu hören und zu sehen, wie sich die Situation im Land darstellt. Das Regime scheint nervös. Viele bewaffnete Uniformierte patrouillieren durch die Stadt; immer wieder Polizeikontrollen auf den Straßen. Doch nicht nur die Iraner hoffen auf den neuen Präsidenten. Auch die 2000 Mitglieder der Deutsch-Iranischen Industrie- und Handelskammer. Sie fordern ein Ende der Sanktionen: "Wir sollten das Land mit Waren fluten. Wandel durch Handel." Geschäftsführer Daniel Bernbeck spricht Klartext: "So liefert der Westen den Iran an China aus. Wir machen Politik, die Chinesen machen Handel."

Als der Wächterrat die acht Namen umfassende Präsidenten-Kandidatenliste veröffentlicht, da sitzt Djir-Sarai längst in seinem Lufthansa-Airbus. "Freiheit will erkämpft, Freiheit will verteidigt sein", ist sein Trinkspruch. Wenn Djir-Sarai das sagt, dann weiß er, wovon er spricht. Er hat immer kämpfen müssen. Er hat sich bis in den Bundestag durchgekämpft, um jetzt als Deutscher für die Iraner in seiner alten Heimat kämpfen zu können.

Wenn er aus Teheran zurückkehrt, ist Frankfurt die Schleuse, die in die Freiheit führt. Der Deutsch-Iraner nimmt morgens um 3 Uhr einen Schluck Whisky, versinkt in Gedanken ... im August kommen seine Eltern nach Deutschland. Sie kommen zur Hochzeit seiner Schwester. Dann ist die Familie wieder vereint – zumindest für kurze Zeit. Es scheint, Bijan Djir-Sarai hasst in diesem Moment den Frankfurter Flughafen etwas weniger als gewöhnlich ...

(NGZ/rl)
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