Rhein-Kreis Neuss Das Schicksal der Zwangsarbeiter

Rhein-Kreis Neuss · Während des Krieges lebten auch in der Region ausländische Zwangsarbeiter. Allein in Neuss teilten 10 000 Menschen dieses Schicksal. Oft wurden sie aus ihrer Heimat verschleppt. Viele überlebten den Krieg nicht. Entschädigung gab es erst spät.

Rhein-Kreis Neuss: Das Schicksal der Zwangsarbeiter
Foto: Stadtarchiv

Ein paar Steine halten die Erinnerung wenigstens ein bisschen wach. "Zum Gedenken an die polnischen Opfer des Krs 1939 — 1945" ist auf einem der anonymen Grabmäler in polnischer und deutscher Sprache eingraviert. Ausländische Besucher haben sich allerdings schon lange nicht mehr hierhin, an diese Stelle des Neusser Hauptfriedhofs, verlaufen. Einmal kamen ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Sie wollten die Gedenksteine sehen, die an ihre in Neuss gestorbenen Leidensgenossen aus Polen beziehungsweise der Sowjetunion erinnern. Aber das ist inzwischen auch wieder etliche Jahre her — und die Steine für die namenlosen Opfer des NS-Regimes haben längst Moos angesetzt.

Peter Schmalbuch hat Alex aus der Ukraine hingegen nie vergessen. Der heute 84-jährige Schmalbuch erlebte das Kriegsende 1945 als Jugendlicher in Hackenbroich, ein Dorf, das später nach Dormagen eingemeindet wurde. Inzwischen umgeben die alte Kirche und den Ortskern moderne Bauten. Doch vor 70 Jahren war Hackenbroich eine Bauern-Siedlung, in der während des Zweiten Weltkrieges auch Menschen aus den von den Nazis besetzten Ländern arbeiteten.

Alex war einer dieser "Fremdarbeiter". Der Ukrainer lebte bei Nachbarn der Schmalbuchs. Ob Alex als Kriegsgefangener nach Deutschland kam oder aus seiner Heimat verschleppt wurde, kann Peter Schmalbuch nicht mehr sagen. Aber etwas anderes weiß der Hackenbroicher noch genau. "Als die Amerikaner anrückten, wollten wir auf dem Kirchturm die weiße Fahne hissen", sagt Schmalbuch. Doch dann schossen an diesem 3. März 1945 die Deutschen. Und Alex wurde getroffen.

Tatsächlich hatte der Ukrainer Glück. Seine Verletzungen erwiesen sich als nicht sehr schwer. Kurz darauf verschwand er für immer aus Hackenbroich. Nur bei Peter Schmalbuch haben sich Alex und die anderen Zwangsarbeiter tief im Gedächtnis eingegraben. "Wenn die Arbeiter, die in Fabriken arbeiteten, unter Bewachung durchs Dorf kamen, haben einige versucht, selbst gemachtes Spielzeug gegen Brot zu tauschen. Meine Mutter hat ihnen immer etwas zugesteckt", erinnert sich der pensionierte Landwirt bis heute.

Eine Szene, wie sie sich damals fast jeden Tag abspielte. Im heutigen Rhein-Kreis schufteten während des Zweiten Weltkrieges wahrscheinlich mehrere zehntausend Zwangsarbeiter. "Allein für die Stadt Neuss gehen wir von zirka 10 000 aus", sagt der Neusser Stadtarchivar Jens Metzdorf.

Dabei konnten die Bedingungen, unter denen dieses Heer der Namenslosen lebte, auch im heutigen Rhein-Kreis kaum unterschiedlicher sein. Während Frauen und Männer aus westlichen Staaten wie den Niederlanden, Belgien und Frankreich oft zumindest einigermaßen menschlich behandelt wurden, fristeten Polen, Russen oder Ukrainer häufig ein Sklavendasein.

Und auch die Art der Unterbringung entschied über das Schicksal der Zwangsarbeiter. Während Arbeiter in der Landwirtschaft — wie eben Alex aus der Ukraine — bei den Bauernfamilien lebten und zwischen Deutschen und Ausländern bisweilen ein persönliche Beziehungen entstanden, erging es den Zwangsarbeitern in den Fabriken viel schlechter.

"Die Leute waren in Lagern untergebracht, die entweder zu mehreren Firmen gehörten oder von nur einem Unternehmen betrieben wurden", sagt Archivar Metzdorf. So etwa hinter dem Neusser Hauptbahnhof, wo der Schraubenhersteller Bauer & Schaurte seine "Fremdarbeiter" in Baracken auf dem Firmengelände zusammengepfercht hatte.

Die Einteilung der Arbeiterinnen und Arbeiter erfolgte durch die sogenannte Gau-Wirtschaftskammer in Düsseldorf, die wiederum mit der Verwaltungsstelle Neuss eine Dependance in der Quirinusstadt besaß. In Kooperation mit dem örtlichen Arbeitsamt sowie Vertretern der Wirtschaft wurde dort stets aufs Neue entschieden, welche Unternehmen welche und wie viele Arbeitskräfte erhielten. Denn im Lauf des Krieges erwiesen sich die Zwangsarbeiter — schon angesichts der vielen Einberufungen unter deutschen Arbeitern — als immer wichtiger. Nur durch die Ausländer war es dem Nazi-Regime möglich, die Industrieproduktion des Reiches aufrecht zu erhalten.

Entsprechend wuchs die "Nachfrage" nach den Arbeitskräften aus den besetzten Ländern — und mit ihr das Elend unter den Ausländern. Allein auf dem Neusser Friedhof haben hunderte Zwangsarbeiter ihre letzte Ruhestätte gefunden. Viele von ihnen starben an Krankheiten oder an miserabler Ernährung. Andere wurden ermordet, weil sie eine Beziehung zu einer deutschen Frau eingegangen waren. Und Unzählige kamen bei alliierten Luftangriffen ums Leben. "In manchen Bunkern fanden die Menschen gemeinsam mit Einheimischen Schutz. In anderen Bunkern wurde ihnen der Zutritt verwehrt", sagt Jens Metzdorf.

Die "Fremdarbeiter" waren also vielfach der Willkür beziehungsweise dem guten Willen der Deutschen ausgeliefert. Ob jemand den Krieg überstand, hing beispielsweise nicht selten von der Firma ab, in der er zu arbeiten gezwungen war. Und ein einzelner deutscher Vorarbeiter in der Fabrik konnte durch sein Verhalten gegenüber den Ausländern ebenfalls darüber entscheiden, wer von den Frauen sowie Männern seinerzeit überlebte — und wer nicht.

Ein Schicksal des Ausgeliefertseins, das sich nach dem Krieg oft fortsetzte. So kehrten die meisten Zwangsarbeiter nach der deutschen Kapitulation zwar schnell in ihre Heimatländer zurück. Einige blieben aber auch für immer. Denn vor allem in der damaligen Sowjetunion waren die Betroffenen neuen Verfolgungen ausgesetzt. Sie galten als Verräter und wurden zu Hunderttausenden in Lagern interniert. Dabei hatte direkt nach Kriegsende unter den nun als "Displaced Persons" bezeichneten Zwangsarbeitern Euphorie geherrscht. Die Menschen feierten die Befreiung. Bis zu ihrer Rückkehr in die Heimat wurden viele bei Deutschen einquartiert.

Eine Maßnahme, die gleichwohl unter den Einheimischen wenig Begeisterung auslöste. Denn angesichts der zerstörten Städte und Dörfer sowie der vielen deutschen Flüchtlinge herrschte auch auf dem Gebiet des Rhein-Kreises große Wohnungsnot.

Einige Zeit bestimmte neues Misstrauen das Klima. Unter den Deutschen machten Erzählungen von ausländischen Banden die Runde, die die Bevölkerung drangsalierten. Und tatsächlich kam so etwas vor. Aber von massenhaften Racheakten kann keine Rede sein. "Fälle, bei denen Einheimische etwa gelyncht wurden, sind nicht aktenkundig", sagt der Neusser Stadtarchivar Metzdorf. Später geriet das Kapitel Zwangsarbeiter in Deutschland beinahe in Vergessenheit. Erst 2000 wurde die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" eingerichtet. Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, zahlten in einen Fonds ein, darunter auch Unternehmen aus dem Kreis.

Am Ende bekamen zwar nur wenige Betroffene Gelder. Viele waren inzwischen gestorben, andere wurden Opfer der Bürokratie, weil sie formale Bedingungen nicht erfüllten. Dennoch bewirkte die Beschäftigung mit der Geschichte ein Umdenken auf deutscher Seite. So arbeitete zum Beispiel die Neusser Wehrhahn-Gruppe als großes Unternehmen die eigene Historie auf. Das Stadtarchiv erstellte eine Dokumentation, die sich dem Schicksal der Zwangsarbeiter in Neuss widmete. Und seit 2006 erinnern nicht mehr nur die Steine auf dem Friedhof an die Namenslosen. Im Hafen steht nun eine Stele, die ebenfalls das Gedenken aufrecht erhält.

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